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Die meiste Zeit über finden die Schlägereien nicht im öffentlichen Raum statt, sondern irgendwo in einer Wohnung, oft sehr spät nachts. Die Gründe sind in der Regel so bedeutungslos, so trivial, dass man es kaum glauben mag: Jemand wurde schief angeschaut, hat einen Witz erzählt, den der andere nicht mochte, oder die Menschen gehen einander einfach nur auf die Nerven. Seit Wochen schon zerbricht sich der Governor den Kopf über diese immer häufiger vorkommenden Streitigkeiten mit ernsten Folgen.

Bis heute aber sind sie so gut wie nie in der Öffentlichkeit geschehen.

Jetzt aber passiert es zum ersten Mal am helllichten Tag, direkt an der Essensausgabe vor mindestens zwanzig Schaulustigen … und die Menge scheint an dem Kampf Gefallen zu finden. Die ersten Zuschauer haben sich noch abgewendet, als die beiden Streithähne im eisigen Wind mit bloßen Fäusten aufeinander losgegangen sind, ihre wilden Schläge voller Wut, die Augen blitzend vor Rage.

Aber dann sind immer mehr Leute gekommen, und die Atmosphäre hat sich geändert. Statt verärgerter Rufe sind nun anfeuernde Schreie zu hören. Blutlust macht sich breit. Der Stress der Plage drückt sich in zornigem Brüllen, frenetischem Jubeln und wildem Luftboxen aus.

Martinez und seine Wachen erscheinen mitten im Höhepunkt des Kampfs.

Dean Gorman, ein Prolet aus Augusta, mit Heavy-Metal-Tattoos am ganzen Körper, bringt Johnny Pruitt zu Boden – einen dicken, teigigen Kiffer aus Jonesboro. Pruitt, der es gewagt hat, das Augusta-State-Jaguars-American-Football-Team zu kritisieren, schlägt mit einem Keuchen auf der Erde auf.

»Hey, legt mal einen anderen Gang ein, Jungs!« Martinez nähert sich von Norden, die M1 an der Hüfte. Sie ist noch immer warm von dem Gemetzel im Eisenbahnlager. Drei Wachen sind ihm auf den Fersen, ebenfalls mit gezückten Waffen. Als er die Straße überquert, kann er die Kampfhähne in der Menge der begeisterten Schaulustigen kaum ausmachen.

Vor ihm schwebt eine Wolke Staub in der Luft, ab und zu erscheint eine Faust, alles ist von Zuschauern eingerahmt.

»HEY!«

Im Kreis tritt Dean Gorman mit seinen Stahlkappen dem Widersacher Johnny Pruitt in die Rippen. Der dicke Mann zuckt vor Schmerzen zusammen, rollt zur Seite. Die Meute johlt auf. Gorman stürzt sich auf Pruitt, der sich aber zu helfen weiß und seinem Angreifer ein Knie in die Weichteile rammt. Die Schaulustigen schreien begeistert auf. Gorman stolpert zur Seite, die Hände schützend vor die Leistengegend gehalten, und Pruitt nutzt die Chance und schlägt seinerseits mehrere Male auf Gormans Gesicht ein. Eine Menge Blut schießt dunkel aus Gormans Nase auf die sandige Erde.

Martinez drängt sich durch den Kreis der Schaulustigen zur Mitte durch.

»Martinez! Warte!«

Ein Griff wie ein Schraubstock hält Martinez zurück. Er dreht sich blitzartig um und sieht sich dem Governor gegenüberstehen.

»Warte noch etwas«, sagt der drahtige Mann kaum hörbar. In seinen tief liegenden Augen glitzert Spannung. Sein dunkler Schnauzbart verleiht ihm etwas Raubtierhaftes. Er trägt einen langen schwarzen Mantel über einem weißen Hemd, dazu Jeans und Arbeitsstiefel. Die Rockschöße des Mantels flattern majestätisch im Wind. Er gleicht einem verwahrlosten Paladin aus dem neunzehnten Jahrhundert, einem selbst ernannten Revolverhelden. »Die Zeit ist noch nicht reif.«

Martinez senkt die Waffe, neigt den Kopf zu den Kampfhähnen. »Ich will nur nicht, dass hier etwas schiefgeht und einer ins Gras beißt.«

Mittlerweile hat der dicke Johnny Pruitt seine wurstigen Finger um Dean Gormans Hals gelegt und drückt zu. Gorman ringt nach Luft, erbleicht. Der Kampf wandelt sich innerhalb von Sekunden – erst war er brutal, jetzt ist er tödlich. Pruitt lässt nicht los. Jubelrufe ertönen aus der Menge. Gorman tritt aus, beginnt zu zucken. Er hat keine Luft mehr, sein Gesicht verfärbt sich, seine Augen treten hervor, und blutiger Speichel fließt ihm aus dem Mund.

»Mach dir nicht in die Hose, Großmütterchen«, murmelt der Governor und starrt mit seinen tief liegenden Augen gespannt auf das Geschehen.

Erst dann merkt Martinez, dass der Governor nicht nur am Kampf selbst interessiert ist. Nein, seine Augen streifen über die ganze Runde. Der Governor beobachtet die Beobachter. Er scheint sich jedes Gesicht einzuprägen, jeden begeisterten Aufschrei, jedes Pfeifen.

In der Zwischenzeit wird Dean Gorman in Johnny Pruitts Wurstfingern immer ruhiger. Seine Gesichtsfarbe, vorher noch auberginefarben, erinnert jetzt eher an trockenen Zement. Seine Augen verdrehen sich, und er hört auf, sich zu wehren.

»Okay, das reicht … Kümmer dich um ihn«, befiehlt der Governor Martinez.

»WEG MIT EUCH!«

Martinez drängt sich zur Mitte durch, die Knarre in beiden Händen.

Der dicke Johnny Pruitt lässt angesichts des Maschinengewehrlaufs in seinem Gesicht endlich los, und Gorman beginnt, nach Luft zu ringen. »Los, hol Stevens«, befiehlt Martinez einer seiner Wachen.

Die Menge, noch immer aufgewühlt von dem Spektakel, protestiert. Einige murren, hier und da ertönen sogar Buhrufe. Ein jeder scheint vom Abbruch des Spektakels enttäuscht.

Der Governor, etwas abseits vom Geschehen, saugt die Atmosphäre in sich auf. Als die Schaulustigen sich endlich zerstreuen – manche schütteln noch mit dem Kopf, beschweren sich –, gesellt er sich zu Martinez, der noch immer über dem sich windenden Gorman steht.

Martinez blickt den Governor an. »Mach dir keine Sorgen, er wird’s überleben.«

»Gut.« Dann senkt er den Blick auf den jungen Mann auf dem Boden vor ihm. »Ich glaube, ich weiß, wofür ich die Wachen einteile.«

Zur gleichen Zeit in den Gewölben unter der Rennstrecke flüstern vier Männer aufgeregt im Zwielicht ihrer Zelle.

»Das wird nie gut gehen«, gibt der erste zu bedenken. Er sitzt in seinen vor Urin triefenden Boxershorts in einer Ecke und starrt die anderen Häftlinge an, die sich um ihn gesellt haben.

»Halt doch deine Schnauze, Manning«, fährt der zweite Mann ihn an. Barker, ein schlanker Typ von fünfundzwanzig Jahren, starrt die Anwesenden durch lange Strähnen fettigen Haares düster an. Barker war einmal Major Gene Gavins Musterschüler im Camp Ellenwood, Georgia, gewesen. Er war drauf und dran, bei den Special Ops des 221st Military Intelligence Battalion stationiert zu werden. Jetzt aber, dank dem Psycho Philip Blake, gibt es Gavin nicht mehr, und Barker ist zu einem zerlumpten, halb nackten, kriecherischen Sack im Keller einer gottverdammten Katakombe geworden und muss sich von Haferbrei, mit Würmern verseuchtem, trockenem Brot und Wasser ernähren.

Die vier Wachen sind jetzt schon seit über drei Wochen hier unten unter »Hausarrest« – seit Philip Blake ihren Commanding Officer Gavin am helllichten Tage vor den Augen Dutzender Zuschauer kaltblütig ermordet hat. Das Einzige, was ihnen jetzt noch gehört, sind Hunger und Wut. Barker ist direkt links neben der verschlossenen Tür an die Wand gekettet. Eigentlich ein guter Platz, um jeden, der in die Zelle kommt, anzugreifen … wie zum Beispiel Blake, der in regelmäßigen Abständen vorbeischaut, um sich Gefangene abzuholen und sie ihrem fürchterlichen Schicksal auszuliefern.

»Der ist doch nicht von gestern, Barker«, meldet sich ein dritter Mann namens Stinson von der gegenüberliegenden Ecke zu Wort. Er ist alt und dick, ein typischer Südstaatler mit schlechten Zähnen, der einmal in einer National Guard Station gearbeitet hat.

»Stinson hat recht«, meint Tommy Zorn. Ihm ist nur die Unterwäsche geblieben, die den Blick auf seinen von Ausschlag bedeckten, unterernährten Körper freigibt. Zorn war ebenfalls bei der National Guard Station angestellt. »Der wird das sofort durchschauen.«

»Nicht, wenn wir vorsichtig vorgehen«, kontert Barker.

»Wer zum Teufel soll denn den Toten spielen?«