Lillys Vater – ein pensionierter Mathelehrer und Witwer namens Everett Ray Caul – hatte seine Tochter in all ihren Vorhaben stets unterstützt. Everett war ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine einzige Tochter nicht zu streng zu erziehen, nachdem seine Frau Mitte der Neunzigerjahre langsam und qualvoll an Brustkrebs gestorben war. Er wusste, dass sie mehr vom Leben wollte, war sich aber auch bewusst, dass sie Liebe brauchte, eine Familie, ein Zuhause. Und Everett war alles, was sie hatte. Und genau das war es, was die letzten paar Monate für Lilly zur Hölle gemacht hat.
Der erste Ausbruch der Untoten hatte das nördliche Cobb County hart getroffen. Sie stammten aus den Arbeitervierteln, den Industrieparks nördlich von den Wäldern von Kennesaw, und die Beißer unterwanderten die Bevölkerung wie bösartige Krebszellen. Everett entschied sich, Lilly zu nehmen und ihre Siebensachen zu packen, um sich mit dem klapprigen VW aus dem Staub zu machen. Sie waren bis zur US 41 gekommen, ehe die Wracks auf den Straßen ihr Fortkommen behinderten. Eineinhalb Kilometer südlich stießen sie auf einen Stadtbus, der die Gegend nach Überlebenden abklapperte und hatten es beinahe an Bord geschafft. Bis zu diesem Tag verfolgt Lilly das Bild, wie ihr Vater sie trotz der Scharen sich nähernder Zombies durch die Tür geschubst hat.
Der alte Mann hatte ihr das Leben gerettet. Sobald sie in Sicherheit war, schloss er die Tür hinter ihr und wurde dann von drei wandelnden Leichen zu Boden gerissen. Sein Blut spritzte gegen die geschlossene Tür, noch ehe der Busfahrer Gas geben konnte. Lilly schrie sich den Hals wund, bis ihre Stimmbänder nicht mehr konnten. Danach wurde sie ruhig, ganz ruhig, richtiggehend katatonisch, rollte sich auf einer Bank zusammen und starrte den ganzen Weg nach Atlanta auf die mit Blut besudelte Tür.
Es grenzte an ein kleines Wunder, dass Lilly Megan gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt des Ausbruchs konnte man noch per Handy telefonieren, und sie verabredete sich mit ihrer Freundin am Flughafen von Heartsfield. Die beiden Frauen machten sich per pedes auf, trampten gen Süden, übernachteten in verlassenen Häusern. Ihr Dasein fristete sie damit zu überleben. Die Spannung zwischen den beiden wuchs zusehends. Eine jede verarbeitete den erlebten Terror und Verlust auf ihre Weise. Lilly zog sich zurück, Megan nahm den anderen Weg, rauchte die ganze Zeit Gras, redete unablässig und hängte sich an jeden Überlebenden, der ihren Weg kreuzte.
Fünfzig Kilometer südwestlich von Heartsfield schlossen sie sich einer Karawane von Überlebenden an – drei Familien aus Lawrenceville, die in zwei Mini-Vans unterwegs waren. Megan überzeugte Lilly davon, dass man zu mehreren sichererer sei, und Lilly fügte sich, zumindest für eine Weile. Während der folgenden Wochen redete sie nicht viel, tauschte sich nicht aus, während sie durch den Obstgürtel Atlantas reisten, aber Megan begann schon bald, sich für einen der Männer zu interessieren. Er hieß Chad, hatte eine knallharte Art an sich, immer Überreste von Schnupftabak über der Lippe und die drahtigen Arme voller Tattoos. Lilly war entsetzt, als ihre Freundin inmitten dieses wachen Albtraums zu flirten anfing, und es dauerte nicht lange, ehe Megan und Chad sich zusammen verkrochen, um »sich etwas Erleichterung zu verschaffen«. Die Kluft, die Lilly und Megan voneinander trennte, wurde immer tiefer.
Es passierte ungefähr zur gleichen Zeit, dass Josh Lee Hamilton in Erscheinung trat. Eines Tages, es war gegen Sonnenuntergang, wurde die Karawane von einer Horde Untoter in einem Kmart-Parkplatz umzingelt, und der kolossale Afroamerikaner tauchte aus dem Schatten der Laderampen auf, um sie zu befreien. Er kam wie ein Gladiator auf sie zu, schwang zwei Hacken durch die Luft, an denen noch die Preisschilder hingen. Im Handumdrehen erledigte er ein halbes Dutzend Zombies, und die Mitglieder der Karawane verdankten ihm ihr Leben. Dann führte er sie in das Geschäft und zeigte ihnen ein paar brandneue Gewehre und die Abteilung mit der Campingausrüstung.
Josh besaß ein Motorrad, und nachdem er ihnen mit dem Aufladen von Proviant und Gütern geholfen hatte, entschied er sich, bei ihnen zu bleiben, und fuhr neben der Karawane her, die langsam durch die Landschaft in Richtung der verlassenen Obsthainen von Meriwether County rollte.
Lilly bereute den Tag, an dem sie sich entschied, als Sozius auf der großen Suzuki mitzufahren. War ihre Anhänglichkeit an den großen Mann lediglich eine Projektion ihrer Trauer? Schließlich hatte sie erst vor Kurzem ihren Vater verloren. Oder handelte es sich vielleicht um einen verzweifelten Manipulationsversuch inmitten dieses nicht enden wollenden Horrors? Ist sie vielleicht genauso billig und durchsichtig wie Megans sexuelle Freizügigkeit?
Lilly überlegt, ob ihre Feigheit – mit der sie Josh auf dem Schlachtfeld gestern im Stich gelassen hat – Teil einer dunklen, unbewussten, selbsterfüllenden Prophezeiung ist.
»Niemand hat gesagt, dass du ein Stück Scheiße bist, Megan«, verkündet sie schließlich. Ihre Stimme klingt nicht besonders überzeugend.
»Rede lieber nicht weiter.« Megan klopft verärgert ihre Pfeife am Ofen aus und rappelt sich auf die Beine. »Du hast auch so schon genug gesagt.«
Lilly folgt ihrem Beispiel und steht ebenfalls auf. Sie hat sich längst an die plötzlichen Stimmungsschwankungen ihrer Freundin gewöhnt. »Hast du etwa ein Problem?«
»Du … Du bist mein Problem.«
»Was zum Teufel soll denn das jetzt?«
»Vergiss es, das ist mir jetzt alles zu viel«, antwortet Megan. Die Trübseligkeit in ihrer Stimme wird vom Marihuana-Rausch übertönt. »Ich wünsche dir viel Glück, Girlie-Girl … Du wirst es brauchen.«
Damit verschwindet sie hinter einer Reihe Autos am östlichen Rand des Zeltplatzes.
Lilly sieht ihr nach. Es sieht so aus, als ob Megan in einen kleinen Wohnwagen voller Kartons flüchtet. Die anderen Überlebenden scheinen den Streit der beiden kaum wahrzunehmen. Einige drehen den Kopf, andere flüstern einander zu, aber die meisten gehen weiter ihrer Beschäftigung nach, sammeln und organisieren Proviant und Vorräte – ihr nüchterner Gesichtsausdruck geprägt von nervöser Anspannung. Der Wind trägt den Geruch von Metall und Eisregen mit sich – die Anzeichen einer drohenden Kaltfront.
Lilly lässt den Blick über die Lichtung streifen und ist für einen Augenblick von der regen Betriebsamkeit in den Bann gezogen. Es kommt ihr wie ein Flohmarkt vor, auf dem es von Verkäufern und Käufern nur so wimmelt. Die Leute tauschen Waren, stapeln Brennholz und plappern schier unentwegt miteinander. Am Rande der Lichtung stehen mindestens zwanzig kleinere Zelte. Hie und da sind Wäscheleinen zwischen Bäumen gespannt, an denen die mit Blut bespritzten Kleider der Untoten hängen. Nichts wird vergeudet, insbesondere nicht in Zeiten des nahenden Winters. Lilly sieht Kinder neben einem Pritschenwagen seilspringen; einige spielen Fußball. In einem Erdloch brennt ein Feuer, und der Rauch zieht über die Dächer der geparkten Autos. Der Geruch von gebratenem Speck und gegrilltem Fleisch liegt in der Luft – Düfte, die einen eher an faule Sommertage, Parkplatzpartys, Sportveranstaltungen oder Familienfeste erinnern mögen.
Eine schwarze Flut von Entsetzen ergreift von Lilly Besitz, als sie über den geschäftigen Platz schaut. Sie sieht Kinder spielen … Eltern, die ihr Bestes tun, um alles am Laufen zu halten … Allesamt Zombie-Futter … Plötzlich verspürt Lilly etwas wie eine Erkenntnis … Einen Stoß zurück in die Realität.
Sie weiß, dass jeder hier dem Tod geweiht ist. Dieser fantastische Plan, eine Zeltstadt in Georgia zu bauen, ist zum Scheitern verurteilt.
Zwei
Am nächsten Tag, unter zinnfarbenem Himmel, spielt Lilly mit den Bingham-Mädchen vor dem Zelt von Chad und Donna Bingham, als schwach hallendes Poltern und Rumpeln über den Baumwipfeln zu ihnen dringt. Ein Großteil der Überlebenden erstarrt, als sie die Geräusche hören. Sie recken die Hälse in die Richtung, aus welcher der Lärm immer näher kommt. Dann ist ihnen klar, worum es sich handeln muss: Es ist ein Motor.