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Aber am deutlichsten kann sie sich an den Anblick von Josh Lee Hamilton erinnern, wie er zu schwanken begann, wie seine Beine wie die einer Flickenpuppe nachgaben. Und das war vielleicht das Merkwürdigste an der ganzen Sache: wie der Riese seine Standhaftigkeit verlor. Man stellt sich vor, dass ein solcher Gigant nicht einfach so aufgeben, wie ein Mammutbaum umfallen oder wie ein Wahrzeichen unter einer Abbruchbirne zusammenbrechen würde, so dass die Erde bebt. Tatsache aber war, dass Josh Lee Hamilton an jenem Tag im schwindenden blauen Licht sang- und klanglos dahinging.

Er ist einfach zu Boden gegangen und leblos liegen geblieben.

Direkt danach wird Lillys Körper von Schüttelfrost ergriffen. Sie kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Alles wird unscharf, verschwommen und doch kristallklar, als ob ihr Geist sich von ihrer irdenen Hülle trennen würde. Sie verliert die Kontrolle über ihr Handeln, steht auf, ohne es wirklich zu merken.

Sie bewegt sich auf den zu Boden gegangenen Mann zu, tut einen unfreiwilligen Schritt nach dem anderen, wie ein Roboter. »Nein, warte … Nein, nein, warte, warte, warte«, brabbelt sie, als sie zu dem sterbenden Riesen kommt. Sie fällt auf die Knie. Tränen strömen ihre Wangen hinab, als sie seinen riesigen Kopf in die Hände nimmt und stammelt: »Jemand … Ruft einen Arzt … Nein … Nun los, holt endlich einen VERFICKTEN ARZT, IRGENDJEMAND!«

Josh ringt mit dem Tod. Blut läuft über ihre Ärmel. Sein Gesicht in Lillys Händen beginnt unkontrolliert zu zucken. Seine Augen verdrehen sich, er blinzelt noch ein, zwei Mal, blickt in Lillys Gesicht, wird ein letztes Mal zum Leben erweckt. »Alicia … Mach das Fenster zu.«

Eine Synapse feuert, eine Erinnerung an eine ältere Schwester verblasst in dem traumatisierten Gehirn wie verlöschende Glut.

»Alicia, schließ das …«

Die Zuckungen in seinem Gesicht ebben ab, die Augen erstarren gleich Murmeln in ihren Höhlen.

»Josh, Josh …« Lilly schüttelt ihn, als ob sie einen Motor per Kickstarter wieder zum Laufen bringen wollte. Aber das geht nicht mehr. Sie ist blind vor Tränen, alles wird milchig. Sie spürt, wie sie ihr auf die Handgelenke tropfen, als sich plötzlich etwas um ihr Genick legt.

»Lass ihn«, ertönt eine raue Stimme hinter ihr. Ihr Eigentümer vermag es kaum, seine Wut zu unterdrücken.

Lilly verspürt, wie jemand sie von dem leblosen Körper zieht. Eine große, männliche Hand hat sie am Kragen gepackt und reißt sie fort.

Etwas tief in ihr gibt nach.

Die Zeit vergeht nur sehr langsam, ist irgendwie kaputt wie in einem Traum, als der Metzger sie von dem Toten wegreißt. Er zerrt sie zurück, und sie bricht an der Mauer zusammen, stößt sich den Hinterkopf, liegt still auf dem Boden und starrt auf den schlaksigen Mann mit der Schürze. Der Metzger ragt über ihr, schnauft, sein ganzer Körper zittert vor Adrenalin. Hinter ihm stehen die alten Männer in einer Gruppe vor dem Lebensmittellager, scheinen in ihren Mänteln verschwinden zu wollen. Ihre verwaschenen Augen sind weit aufgerissen.

Aus den Häusern erscheinen Köpfe, Augen schauen aus Fenstern und Eingängen.

»Nun seht, was ihr beide angerichtet habt!«, brüllt der Metzger und richtet die Pistole auf Lilly. »Ich habe versucht, vernünftig mit euch umzugehen!«

»Tu es.« Sie schließt die Augen. »Tu es einfach … Nun mach schon.«

»Du dumme Schlampe, ich werde dich nicht umbringen!« Mit der freien Hand verpasst er ihr eine Ohrfeige. »Hörst du mir überhaupt zu? Passt du jetzt auf?«

In der Ferne ertönen Schritte – jemand rennt auf sie zu, anfangs noch unbemerkt. Lilly öffnet die Augen. »Du bist ein Mörder«, stammelt sie, der Mund voller Blut. Auch aus ihrer Nase schießt jetzt der dickflüssige Lebenssaft. »Du bist schlimmer als ein Scheißzombie!«

»Du kannst glauben, was du willst.« Er schlägt erneut zu. »Und jetzt will ich, dass du mir zuhörst.«

Der Schmerz belebt Lilly, sie wacht wieder auf. »Was willst du?«

Stimmen ertönen, Schritte kommen immer näher, aber der Metzger hört nichts weiter als seine eigene Stimme. »Du wirst mir noch den Rest von Green Miles Schulden bezahlen, Kleines!«

»Fick dich.«

Der Metzger beugt sich zu ihr herab und grapscht sie am Kragen. »Du wirst deinen kleinen Arsch für mich abarbeiten, bis ich …«

Lillys Knie schießt mit voller Wucht in die Höhe, hart genug, um des Metzgers Eier in sein Becken zu befördern. Der Mann keucht überrascht auf. Es hört sich an wie Dampf, der aus einem kaputten Ventil entweicht.

Lilly springt auf und krallt sich in seinem Gesicht fest. Ihre Fingernägel sind bis aufs Letzte abgekaut, so dass sie nicht viel Unheil mit ihnen anrichten kann, aber es treibt den Mann noch weiter zurück. Er holt aus, will sie wieder schlagen. Sie duckt sich, so dass er lediglich ihre Schulter erwischt. Sie tritt ihm erneut in die Weichteile.

Der Metzger taumelt, greift nach der Pistole.

Mittlerweile ist Martinez nur noch einen halben Häuserblock entfernt und sprintet auf sie zu. Zwei Wachen sind ihm dicht auf den Fersen. »WAS ZUM TEUFEL …?«, brüllt er.

Der Metzger hat die Glock wieder aus dem Gürtel geholt und dreht sich zu dem heranstürmenden Martinez um.

Der vor Kraft strotzende, wendige Martinez stürzt sich auf ihn, schlägt den Kolben seines Maschinengewehres mit aller Wucht auf des Metzgers Handgelenk. Der Ton brechender Knochen ist über dem Wind hörbar. Die Glock fliegt dem Mann aus der Hand, und er jault wehklagend auf.

Eine der Wachen, ein schwarzer Junge in einem zu großen Kapuzenpullover, schnappt sich Lilly und zerrt sie aus der Gefahrenzone. Sie windet und wehrt sich in seinen Armen, während er sie in Sicherheit zieht.

»Gib auf, Arschloch!«, brüllt Martinez und zielt mit dem Maschinengewehr auf den noch taumelnden Metzger, der aber schneller als Martinez ist und den Lauf umfasst.

Die beiden Männer kämpfen um die Waffe. Sie stolpern in Richtung der Tonne mit dem Feuer, werfen sie um, so dass die Glut sich auf den Bürgersteig ergießt. Die beiden kommen ins Wanken, stürzen gegen die Glastür vom Lebensmittellager. Als Martinez dem Metzger mit dem Maschinengewehr ins Gesicht schlägt, gibt das Glas leicht nach, und ein feiner Haarriss zieht sich über die Scheibe.

Der Metzger brüllt vor Schmerz auf, reißt Martinez die M1 aus den Händen. Sie fliegt durch die Luft, landet auf dem Bürgersteig. Die alten Männer flüchten panisch, während von allen Seiten Bewohner herbeieilen. Die zweite Wache, ein älterer Mann mit Pilotenbrille und einer heruntergekommenen Daunenweste, hält die Schaulustigen in Schach.

Martinez verpasst dem Metzger einen rechten Haken, so dass der dürre Mann mit der Schürze durch das berstende Glas der Tür stürzt.

Der Metzger landet im Lager, bricht auf dem gekachelten Boden zusammen, der mit Glassplittern übersät ist. Martinez klettert hinterher.

Ein wahres Feuerwerk von Schlägen hagelt jetzt auf den Metzger ein. Er kann sich nicht mehr verteidigen, nicht mehr flüchten, kommt nicht mehr vom Boden weg. Sabber und Blut fliegen durch die Luft. Er versucht panisch, sein Gesicht zu schützen, hält die Arme zur Verteidigung hoch, aber Martinez drischt unentwegt auf ihn ein.

Er schlägt den Mann mit einem harten Kinnhaken bewusstlos, der den Kiefer knirschen lässt.

Niemand sagt ein Wort oder gibt einen Laut von sich, während Martinez nach Luft schnappt. Er steht über dem Mann in der Schürze, reibt sich die Fingerknöchel, versucht, sich zu orientieren. Jetzt fängt die Menge draußen an, begeistert zu rufen, aber er hört es gar nicht richtig. Die ganze Situation gleicht irgendwie einer perversen Mobilmache oder Wahlveranstaltung.