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Martinez versteht nicht, was gerade passiert ist. Er hat sich nie viel aus Sam dem Metzger gemacht, kann sich aber auch nicht vorstellen, was passiert sein muss, damit er die Waffe auf Hamilton richtet.

»Was zum Teufel ist bloß in dich gefahren?«, fährt Martinez den Mann auf dem Boden an. Nicht dass er eine Antwort erwartet, aber er muss sich abreagieren.

»Der Mann will offensichtlich im Mittelpunkt stehen, ein Star sein.«

Die Stimme ertönt von dem zerborstenen Glas hinter Martinez.

Er dreht sich um und sieht den Governor in der Tür stehen. Drahtig, die Arme vor der Brust verschränkt, die langen Rockschöße seines Mantels im Wind flatternd, steht er mit rätselhaftem Gesichtsausdruck da, einer Mischung aus Verwirrung, Abscheu und unheilvoller Neugier. Gabe und Bruce befinden sich wie immer hinter ihm wie missmutige Totempfähle.

Martinez versteht die Welt nicht mehr. »Was will er sein?«

Die Miene des Governors verändert sich schlagartig – seine dunklen Augen leuchten mit einer Eingebung auf, sein Schnauzbart ist jetzt voll gewachsen und zuckt um seine Mundfalten. All das verrät Martinez, dass es besser sei, ihn nicht unnötig zu reizen. »Zuerst«, fährt der Governor unbeirrt mit teilnahmsloser Stimme fort, »musst du mir sagen, was genau passiert ist.«

»Er hat nicht gelitten, Lilly … Das darfst du nicht vergessen … Keine Schmerzen … War einfach nur dahin, wie eine Lampe, die man ausschaltet.« Bob hockt auf dem Bordstein neben Lilly, die mit hängendem Kopf dasitzt, die Tränen kullern ihre Wangen hinab. Bobs Erste-Hilfe-Kasten steht geöffnet neben ihm auf dem Bürgersteig, und er tupft ihr malträtiertes Gesicht mit Desinfektionsmittel ab. »Das ist mehr, als wir alle uns in dieser verkackten Welt erhoffen können.«

»Ich hätte eingreifen sollen«, murmelt Lilly mit tonloser, ausgelaugter Stimme, die klingt, als ob sie bereits auf dem Zahnfleisch gehe. Ihre Tränensäcke sind leer geweint. »Ich hätte es tun können, Bob. Ich hätte es verhindern können.«

Es folgt ein langes Schweigen, der Wind zieht und zerrt an den Dachstühlen und Hochspannungsleitungen. So gut wie die gesamte Bevölkerung von Woodbury hat sich auf der Hauptstraße versammelt, um das Nachspiel der Tragödie zu erleben.

Josh liegt auf dem Rücken neben Lilly. Man hat ihn mit einem Laken bedeckt. Ohne dass Lilly es bemerkte, wurde das behelfsmäßige Leichentuch kurzerhand über ihn geworfen und saugte sich schnell voller Blut von Joshs Kopfwunde. Lilly streichelt ihm zärtlich das Bein, zwickt es ab und zu, massiert es, als ob er von ihrer Berührung wieder aufwachen würde. Einige Strähnen haben sich von Lillys Pferdeschwanz gelöst und hängen jetzt über ihr gezeichnetes, niedergeschlagenes Gesicht.

»Ruhig jetzt, meine Kleine«, versucht Bob sie zu beruhigen und steckt eine Flasche mit Jod zurück in den Erste-Hilfe-Kasten. »Es gibt nichts, was du hättest machen können. Rein gar nichts.« Bob wirft einen raschen, besorgten Blick auf die zerbrochene Glastür des Lebensmittellagers, in der noch Scherben stecken. Drinnen kann er gerade noch den Governor und sein Gefolge ausmachen, der sich mit Martinez unterhält. Der bewusstlose Metzger liegt im Schatten. Der Governor macht einige ausholende Gesten in Richtung des Metzgers, scheint Martinez etwas zu erklären. »Das ist eine gottverdammte Schande«, meint Bob und wendet sich ab. »Eine gottverdammte Schande.«

»Er hat niemals einer Fliege etwas zuleide getan«, sagt Lilly und blickt auf das blutbefleckte Laken. »Ich würde gar nicht leben, wenn er nicht gewesen wäre … Er hat mir das Leben gerettet, Bob, und er wollte nur …«

»Miss …?«

Lilly schaut auf, als sie eine ihr unbekannte Stimme vernimmt und erblickt einen älteren Mann mit Brille. Er trägt einen weißen Kittel, steht hinter Bob. Dazu gesellt sich eine junge Frau, vielleicht um die zwanzig, mit blonden Zöpfen. Auch sie trägt einen abgewetzten Kittel. Um den Hals hängt ein Stethoskop, und sie hat ein Blutdruckmessgerät in der Hand.

»Lilly, das ist Doc Stevens«, stellt Bob ihr den Mann vor und nickt in seine Richtung. »Und das hier ist Alice, unsere Krankenschwester.«

Die Frau nickt Lilly zu und packt das Blutdruckmessgerät aus.

»Lilly, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns Ihr Gesicht mal etwas genauer ansehen würden?«, fragt der Arzt, kniet sich neben sie hin, nimmt das Stethoskop von der Schwester und steckt es sich in die Ohren. Lilly antwortet nicht, blickt erneut zu Boden. Der Arzt tastet vorsichtig ihr Genick ab, arbeitet sich um den Hals in Richtung Brustbein und nimmt dann schließlich ihren Puls. Er untersucht ihre Wunden, checkt ihre Rippen. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Ihren Partner verloren haben, Lilly«, murmelt der Arzt.

Lilly sagt nichts.

»Einige der Verletzungen sind schon alt«, erklärt Bob, steht auf und geht etwas zur Seite.

»Sieht nach einer Haarfraktur an Nummer acht und neun sowie dem Schlüsselbein aus«, schließt er. »Alle verheilt. Auch die Lungen hören sich gut an.« Er nimmt das Stethoskop aus den Ohren und legt es um den Hals. »Lilly, bitte lassen Sie uns wissen, falls Sie irgendetwas brauchen.«

Sie nickt.

Der Arzt sucht nach den richtigen Worten. »Lilly, ich möchte, dass Sie …« Er hält inne, überlegt. »Nicht jeder hier ist … ist so. Ich weiß, dass es Sie kaum trösten wird.« Er wirft Bob einen Blick zu, schaut dann auf die zertrümmerte Lebensmittellagertür, ehe er sich wieder Lilly zuwendet. »Was ich damit sagen möchte … Wenn Sie jemals über etwas reden wollen, wenn Ihnen etwas nicht passt, wenn Sie was auch immer brauchen … kommen Sie einfach zu uns in die Klinik.«

Als Lilly nicht reagiert, seufzt der Arzt und steht auf. Er tauscht einen nervösen Blick mit Alice und Bob aus.

Bob gesellt sich wieder zu Lilly, kniet sich hin und haucht: »Lilly, Kleines – wir müssen jetzt den Leichnam beiseiteschaffen.«

Zuerst hört sie ihn kaum, nimmt überhaupt nicht wahr, was er sagt.

Sie starrt einfach weiterhin auf den Bürgersteig, streichelt das Bein des Toten und fühlt sich leer. In Anthropologie an der Georgia Tech hat sie gelernt, dass ein wichtiger Teil der Mythologie der Algonkinstämme die Beschwichtigung der Totengeister beinhaltet. Nach der Jagd haben sie ihre Beute bei den letzten Atemzügen beatmet, sie damit geehrt, in ihren eigenen Körper aufgenommen, ihr die letzte Ehrerbietung erwiesen. Lilly aber verspürt lediglich eine Trostlosigkeit, ein Gefühl des Verlusts von dem immer kälter werdenden Leichnam von Josh Lee Hamilton zu ihren Füßen.

»Lilly?« Bobs Stimme hört sich an, als stamme sie von einem weit entfernten Ort, aus einem anderen Universum. »Wir kümmern uns jetzt um Josh. Ist das okay?«

Lilly antwortet nicht.

Bob nickt Stevens zu. Der Arzt nickt wiederum der Krankenschwester zu, die ihrerseits zwei Männern zu verstehen gibt, dass sie jetzt mit der Trage kommen können. Die Männer – beide Saufkumpane von Bob mittleren Alters – gehen zu Josh, nur Zentimeter von Lilly entfernt, und stellen die Trage auf dem Boden ab. Der erste Mann versucht vorsichtig, den Riesen auf die Bahre zu hieven, als Lilly ihn plötzlich anstarrt, die Tränen wegblinzelt.

»Lassen Sie ihn«, brummt sie kaum hörbar.

Bob legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Lilly, Kleines …«

»ICH HABE GESAGT, DASS IHR IHN IN FRIEDEN LASSEN SOLLT! HAUT AB!!!«

Ihr gequälter Schrei durchbricht die windgepeitschte Stille der Straße, zieht jedermanns Aufmerksamkeit auf sich. Schaulustige in hundert Metern Entfernung horchen auf. Leute in Eingängen schauen um die Ecke, um zu sehen, was passiert ist. Bob winkt den beiden Bahrenträgern zu, und Stevens und Alice entfernen sich, gehüllt in Schweigen.

Der Aufruhr hat einige Neugierige aus dem Lebensmittellager angelockt. Sie stehen in der Tür und starren auf das Schauspiel, das sich ihnen bietet.