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Dann ertönt erneut die Stimme: »UND DAS, LEUTE, IST, WAS WIR GERECHTIGKEIT NENNEN!«

In diesem Augenblick sind die Straßen von Woodbury wie ausgestorben. Man könnte denken, dass man in einem x-beliebigen Kaff irgendwo in Georgia gelandet ist. Als ob die Plage hier ebenfalls alles Leben ausgerottet hätte.

Auf den ersten Blick scheint jeder einzelne Bewohner wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Aber das ist nicht der Fall – sie sind noch alle in der Arena, in den Bann des Kampfes gezogen. Selbst der Bürgersteig vor dem Lebensmittellager ist bereits wieder aufgeräumt. Sämtliche Anzeichen des Mordes wurden von Stevens und seinen Leuten beseitigt, und Josh liegt ja längst in der Leichenhalle.

Lilly Caul spaziert in der Dunkelheit umher, hört die von dem Wind an ihre Ohren getragenen Schreie der Menschen. Sie trägt ihr Fleece, die kaputten Jeans und ihre abgewetzten Basketballschuhe. Sie kann nicht schlafen, kann nicht denken, kann nicht mit dem Weinen aufhören. Sie kriegt eine Gänsehaut von dem Lärm aus der Arena, als ob Scharen von Insekten ihr über den Körper krabbeln. Das Schlafmittel, das Bob ihr gespritzt hat, scheint nicht zu wirken, dient lediglich dazu, den Schmerz zu dämpfen. Es kommt ihr beinahe so vor, als ob ihre Gedanken in Verbandsmull eingewickelt sind. Sie zittert vor Kälte und hält vor der mit Brettern verschlagenen Drogerie inne.

»Es geht mich ja nichts an«, ertönt eine Stimme aus den Schatten. »Aber eine junge Frau wie Sie sollte um diese Zeit nicht allein durch die Straßen wandern.«

Lilly dreht sich um, sieht den Schimmer einer metallenen Brille. Sie seufzt, wischt sich die Augen und blickt zu Boden. »Das ist mir jetzt auch egal.«

Dr. Stevens tritt in das flackernde Fackellicht, die Hände in den Taschen seines Arztkittels, der bis zum Kragen zugeknöpft und von einem Schal gekrönt ist. »Wie geht es Ihnen, Lilly?«

Sie blickt ihn durch Tränen an. »Wie es mir geht? Na, wunderbar.«

Sie versucht zu atmen, aber es ist, als ob ihre Lungen voller Sand sind. »Nächste dumme Frage.«

»Sie sollten sich ausruhen.« Er geht zu ihr, untersucht ihre Verletzungen. »Sie stehen noch immer unter Schock, Lilly. Sie müssen schlafen.«

Sie bringt ein müdes Lächeln zustande. »Ich werde schon genug schlafen, wenn ich tot bin.« Sie zuckt zusammen, starrt erneut zu Boden. Die Tränen brennen in ihren Augen. »Das Merkwürdigste ist, dass ich ihn kaum gekannt habe.«

»Er scheint ein guter Mann gewesen zu sein.«

Sie schaut ihn an. »Aber, ist so etwas denn überhaupt noch möglich?«

»Was denn?«

»Gut zu sein.«

Der Arzt seufzt: »Wahrscheinlich nicht.«

Lilly schluckt und konzentriert sich wieder auf den Boden zu ihren Füßen. »Ich muss hier weg.« Sie spürt, wie sich das Schluchzen erneut in ihr aufbaut. »Ich werde damit einfach nicht mehr fertig.«

»Willkommen im Club.«

Eine unbehagliche Stille.

Lilly reibt sich die Augen, fragt dann: »Wie schaffen Sie es denn?«

»Wie schaffe ich was?«

»Hierzubleiben … Diese ganze Misere über sich ergehen zu lassen. Sie machen den Eindruck, als ob Sie noch einigermaßen normal sind.«

Der Arzt zuckt die Schultern. »Manchmal trügt der Schein. Aber wie auch immer … Ich bleibe aus dem gleichen Grund wie die anderen auch.«

»Und der soll sein?«

»Angst.«

Lilly zählt die Pflastersteine, sagt kein Wort. Was gibt es auch zu sagen? Die Fackeln von der anderen Straßenseite nähern sich dem Ende, die Dochte sind aufgebraucht. Die Schatten vertiefen sich zwischen den Gebäuden. Lilly kämpft gegen einen Schwindelanfall an, der droht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie will nie wieder schlafen, nie wieder.

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie kommen«, gibt der Arzt zu bedenken und nickt in Richtung Arena. »Sobald sie genug von der kleinen Horrorshow haben, die Blake für sie aufgetischt hat.«

Lilly schüttelt mit dem Kopf. »Das hier ist ein Irrenhaus, und der Typ, dieser Governor, ist der Krankeste von allen.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Lilly«, fährt Stevens fort und deutet in die andere Richtung. »Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang … Weg von der Menschenmenge.«

Sie atmet gequält aus, zuckt dann die Achseln und murmelt: »Wie auch immer …«

In jener Nacht laufen Dr. Stevens und Lilly über eine Stunde lang durch die kalte, erfrischende Luft, gehen mehrmals an der Barrikade im Osten der Stadt entlang, ehe sie den stillgelegten Schienen folgen, aber nur innerhalb der Sicherheitszone. Während sie spazieren und sich unterhalten, verliert sich die Meute, verschwindet in ihren Häusern und Wohnungen, die Blutlust ist vorerst gestillt. Der Arzt ist es, der die meiste Zeit erzählt in jener Nacht, stets mit gedämpfter Stimme, denn die Wachen mit ihren Maschinengewehren, Ferngläsern und Handsprechfunkgeräten sind überall entlang der Barrikade an strategischen Orten positioniert.

Sie halten ständigen Kontakt mit Martinez, der seine Männer extra darauf hingewiesen hat, insbesondere bei den Schwachstellen der Mauer und vor allem im Süden und im Westen Vorsicht walten zu lassen. Martinez macht sich Sorgen, dass der Lärm der Spiele mit den Gladiatoren die Zombies anlocken könnte.

Auf ihrem Spaziergang belehrt Stevens Lilly über die Gefahr, sich mit dem Governor anzulegen. Steven gibt ihr zu verstehen, dass sie ihr Mundwerk unter Kontrolle halten muss, und er benutzt Redewendungen und Analogien, die Lilly ganz schwindlig werden lassen – von Kaiser Augustus über diverse Beduinenherrscher aller Jahrhunderte und darüber, wie die widrigen Umstände in einer Wüste stets brutale Regime, Coups und blutige Aufstände hervorgebracht haben.

Schließlich kommt Stevens auf die grässlichen Tatsachen der Zombie-Plage zu sprechen und gibt zu bedenken, dass blutrünstige Anführer wohl ein notwendiges Übel in diesen Zeiten und somit überlebenswichtig sind.

»So will ich aber nicht leben«, erwidert Lilly, als sie langsam durch eine Allee kahler Bäume gehen. Der Wind weht ihnen einen leichten Schneeregen ins Gesicht, der die Haut in ihren Gesichter brennen lässt. Es sind nur noch zwölf Tage bis Weihnachten – aber das merkt hier niemand.

»Da hat man keine Wahl, Lilly«, murmelt der Arzt mit gesenktem Kopf. Er hat den Schal über das Kinn gezogen und starrt weiter auf den Boden.

»Man hat immer eine Wahl.«

»Glauben Sie das? Da wäre ich mir nicht so sicher, Lilly.« Sie gehen stillschweigend weiter. Der Arzt schüttelt den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Sie blickt ihn an. »Josh Hamilton ist nie zu einem schlechten Menschen geworden. Mein Vater hat sein Leben für mich geopfert.« Lilly holt tief Luft, versucht, gegen die Tränen anzukämpfen. »Das ist doch nur eine Ausrede. Man wird böse geboren. Die ganze Scheiße, die uns hier gerade um die Ohren fliegt … Das ist doch nur ein Auslöser, bringt das wahre Ich in jedem zum Vorschein.«

»Dann möge Gott uns helfen«, raunt der Arzt mehr zu sich selber als zu Lilly.

Am nächsten Tag wird Josh Lee Hamilton unter stahlgrauem Himmel von einer kleinen Gruppe Trauernder in einem behelfsmäßigen Sarg begraben. Lilly, Bob, Stevens, Alice und Megan sowie Calvin Deets, einer der Arbeiter, der sich während der letzten Wochen mit Josh angefreundet hat, sind anwesend.

Deets ist schon etwas älter, ein abgemagerter Kettenraucher, der deshalb schon an fortgeschrittener Lungenaufblähung leidet. Sein Gesicht gleicht einer alten Satteltasche, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Ehrerbietig steht er in der hinteren Reihe hinter Joshs engeren Freunden. In den schwieligen Händen hält er seine Baseballmütze. Lilly ergreift das Wort.

»Josh ist in einem religiösem Umfeld, einer religiösen Familie aufgewachsen«, beginnt sie mit gebeugtem Haupt und kann vor Rührung kaum sprechen. Es ist, als ob sie mit dem gefrorenen Grund am Rande des Spielplatzes spricht, auf dem sie steht. »Er hat geglaubt, dass wir im Tod alle an einen besseren Ort kommen werden.«