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Niemand hat eine Ahnung, wer es sein könnte. Gerüchte von Dieben machen die Runde, es soll richtige Banden geben, die bewaffnet bis an die Zähne anderen Überlebenden alles klauen bis aufs letzte Hemd. Die Siedler haben immer ein paar Autos als Späher ausgeschickt, man kann ja schließlich nie wissen.

Lilly schaut vom Hickelkasten auf – die Kinder haben die Quadrate mit einem Stock in den roten Lehmboden gekratzt –, und die Bingham-Mädchen erstarren mitten im Hüpfen. Die Älteste, Sarah, wirft einen Blick auf die Straße. Das dünne, jungenhafte Mädchen mit den neugierigen, großen blauen Augen ist fünfzehn Jahre alt und die Anführerin der vier Bingham-Mädchen. Mit leiser Stimme haucht sie: »Ist das etwa …«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Lilly sie. »Ich bin mir sicher, dass das einer von uns ist.«

Die drei jüngeren Mädchen strecken die Hälse empor, suchen nach ihrer Mutter.

Aber Donna Bingham ist nirgends zu sehen. Sie wäscht Kleider in einer verzinkten Tonne, die hinter dem großen Familienzelt steht. Chad Bingham hat es bereits vor vier Tagen sorgsam aufgestellt und mit Metallliegen, einer Reihe Kühlboxen, Abluftkaminen und einem batteriebetriebenen DVD-Spieler mit einer Reihe von Kinder-DVDs wie Die kleine Meerjungfrau oder Toy Story 2 ausgestattet. Plötzlich ertönen Schritte – es ist Donna Bingham, die jetzt um das Zelt kommt. Lilly ist bereits damit beschäftigt, die Kinder um sich zu scharen.

»Sarah, hol Ruthie«, bittet Lilly die Älteste in ruhigem, aber bestimmtem Ton. Das Motorgeräusch kommt immer näher, und eine dunkle Wolke von Abgasen taucht über dem Wald auf. Lilly gesellt sich rasch zu den eineiigen Zwillingen. Die neunjährigen Mary und Lydia haben die gleichen Zöpfe, tragen sogar dieselben Jacken. Lilly treibt sie zum Zelteingang, während Sarah die siebenjährige Ruthie in die Arme nimmt – ein niedliches, kleines Ding mit Shirley-Temple-Locken, die über den Kragen ihrer winzigen Skijacke fallen.

Donna Bingham erscheint im Blickfeld, als Lilly die Zwillinge ins Zelt führt. »Was ist denn los?«, will die Mutter der Kinder wissen. Sie hat ein blasses, farbloses Gesicht und erweckt den Eindruck, als ob bereits ein Windstoß reichen würde, um sie umzuhauen. »Wer ist es? Eine Bande? Ein Fremder?«

»Nichts Schlimmes«, versucht Lilly sie zu beruhigen und hält den Eingang zum Zelt offen, so dass die vier Mädchen ins Dunkle huschen können. Während der fünf Tage, seitdem sie sich hier niedergelassen haben, ist Lilly zur Babysitterin geworden, betreut diese oder jene Gruppe Kinder, während die Erwachsenen sich um Brennholz oder Proviant kümmern oder nur etwas Zeit allein haben wollen. Sie freut sich über die Ablenkung, die ihr diese Tätigkeit bietet – insbesondere jetzt, da Babysitten bedeutet, dass sie jeglichen Kontakt mit Josh Lee Hamilton vermeiden kann. »Bleib einfach im Zelt mit den Kindern, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

Donna Bingham schließt die Zeltplane dankbar hinter sich und ihren Töchtern.

Lilly dreht sich rasch zur Straße um und sieht einen ihr bekannten Kühler von einem Mähdrescher mit fünfzehn Gängen, der sich plötzlich aus dem Dunst erhebt und durch den Nebel immer näher kommt. Sie stöhnt erleichtert auf. Trotz ihrer angegriffenen Nerven kann sie sich ein Lächeln nicht verkneifen und macht sich zur westlichen Grenze des Zeltplatzes auf, die als Ladeplatz dient. Der verrostete Mähdrescher prescht über das Gras und hält dann plötzlich, so dass die drei Teenager, die hinten aufsitzen, mitsamt den behelfsmäßig festgemachten Kisten nach vorne gegen das mitgenommene Fahrerhäuschen rutschen.

»Lilly-Lili Marleen!«, ruft der Fahrer, als Lilly vor ihm erscheint. Bob Stookey umklammert mit seinen großen, schmierigen Händen – die Hände eines Arbeiters – das Steuerrad.

»Und was steht heute auf dem Speisemenü, Bob?«, fragt Lilly mit einem müden Lächeln. »Mehr Kekse?«

»Lass mich überlegen … Heute gibt es ein Gourmet-Drei-Gänge-Menu, kleine Schwester.« Bob neigt den tief zerfurchten Kopf zu den drei Jugendlichen hinten auf dem Mähdrescher. »Haben einen verlassenen Laden gefunden. Lediglich zwei oder drei Zombies, die uns das Leben schwermachen wollten … Sind rein und raus wie Jäger auf der Pirsch.«

»Dann fang mal an zu erzählen.«

»Lass mich überlegen …« Bob legt den Leerlauf ein und schaltet dann den Motor aus. Mit einer Hautfarbe wie gebeiztes Kuhleder und rot umrandeten Augen scheint Bob Stookey einer der letzten Menschen der neuen Südstaaten zu sein, die noch Pomade benutzen, um ihre Haare aus ihrem wettergegerbten Gesicht zu kämmen. »Es gibt Holz, Schlafsäcke, Werkzeuge, Obst in Dosen, Laternen, Müsli, wetterfeste Radios, Schaufeln, Holzkohle – und was noch? Ach ja, einen Haufen Töpfe und Pfannen, ein paar Tomatenpflanzen – sogar mit der einen oder anderen halbreifen Tomate dran –, ein paar Flaschen Butan, fünfzig Liter Milch, die erst vor zwei Wochen abgelaufen ist, Seife, Brennpaste, Waschseife, Schokoladenriegel, Toilettenpapier, ein paar Terrakotta-Igel, in denen Kresse wächst, ein Buch über Bio-Landwirtschaft, einen singenden Fisch für mein Zelt und Weihnachtsmänner und Osterhasen im Doppelpack.«

»Bob, Bob, Bob … Keine AK-47? Kein Dynamit?«

»Ach, hab ’was viel Besseres als das, du Neunmalklug.« Bob beugt sich zu einer Aprikosenschachtel auf dem Sitz neben ihm hinunter, ergreift sie und reicht sie Lilly durch das Fenster. »Sei ein Schatz und stell die bitte in mein Zelt, während ich den drei Weihnachtsmännern hier mit dem schweren Zeug helfe.«

»Was hast du denn da?«, will Lilly wissen und beäugt die Kiste voller Plastikfläschchen.

»Zeug für meinen Arzneischrank«, antwortet Bob und steigt aus der Fahrerkabine. »Und das will ich sicher verstaut wissen.«

Lilly entdeckt zwischen den vielen Arzneimitteln auch ein halbes Dutzend Flaschen Whiskey. Sie wirft Bob einen fragenden Blick zu: »Arzneimittel?«

Er lächelt zurück. »Mir geht es ab und zu nicht so gut.«

»Wird schon stimmen«, sagt Lilly. Sie weiß, dass Bob ein unverbesserlicher Säufer ist – und natürlich auch, dass er ein extrem netter, umgänglicher und manchmal auch etwas verlorener Mensch ist. Nicht nur das, er war Sanitäter bei der Armee, was ihn zufälligerweise auch zum einzigen Menschen im ganzen Camp macht, der über eine Art medizinische Ausbildung verfügt.

Sie hatten sich kennengelernt, als Megan und Lilly noch allein unterwegs gewesen waren. Damals hatte er ihnen aus der Patsche geholfen, indem er ihnen einen Haufen Zombies an einem Rastplatz vom Hals schaffte. Zu der Zeit war er noch bemüht, sein Alkoholproblem zu vertuschen. Seitdem sich aber die Gruppe von Überlebenden hier vor fünf Tagen niedergelassen hat, war es Lilly gewesen, die ihm jede Nacht dabei half, heil zurück in sein Zelt zu kommen, ohne dass man ihn ausraubte – und das war in einer solch großen Gruppe von Menschen, die unter einer derartigen Anspannung zusammenhausen mussten, eine echte Herausforderung. Sie mochte Bob, und es machte ihr nichts aus, auf ihn genauso wie auf die Kleinen aufzupassen. Aber es bescherte ihr einen zusätzlichen Stressfaktor, den sie so sehr brauchte wie einen Kropf am Hals.

In diesem Augenblick aber ist ihr klar, dass er noch etwas von ihr braucht. Sie merkt es an der Art, wie er sich den Mund mit dem Ärmel abwischt.

»Lilly, es gibt da noch etwas …« Er hält inne, schluckt verlegen.

Sie stöhnt. »Immer heraus damit, Bob.«

»Es geht mich ja nichts an … Okay? Aber ich will nur damit sagen, dass … Ach, verdammt.« Er holt tief Luft. »Josh Lee ist ein guter Mann. Ich besuche ihn ab und zu.«

»Und?«

»Das war es schon.«