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»Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr, Schatz«, sagt der Governor und macht sich an den Korken der Champagnerflasche. Zuerst will er nicht herauskommen, aber der Governor bearbeitet ihn so lange, bis er die Flasche endlich offen hat. Die sprudelnde goldene Flüssigkeit schäumt über den Rand und tropft zu Boden. Er hat keine Ahnung, ob es wirklich Silvester ist, weiß nur, dass es während der nächsten paar Tage so weit ist. Es könnte also auch heute Nacht sein.

Er starrt auf die sich ausbreitende Pfütze Champagner auf dem Boden. Der Schaum verschwindet in den Fugen. Er erinnert sich an das Silvester, das er aus seiner Kindheit kennt.

Damals hat er sich schon Monate vorher auf diesen Abend gefreut. In Waynesboro haben er und seine Kumpel immer ein ganzes Schwein bestellt, es sich am dreißigsten liefern lassen, um es dann ganz langsam in der Erde hinter dem Haus mit heißen Steinen im hawaiianischen Luau-Stil garen zu lassen. Das Fest hat sich stets über zwei Tage hingezogen. Die örtliche Bluegrass-Band, die Clinch Mountain Boys, spielten die ganze Nacht durch, und Philip hat sich immer das beste Gras besorgt. Die erste Nacht wurde überhaupt kein Auge zugemacht, und Philip hat immer eine Frau gefunden, die sich seiner erbarmte …

Der Governor blinzelt. Er kann sich nicht daran erinnern, ob das jetzt Philip Blake oder Brian Blake war. Er weiß nicht mehr, wo ein Bruder aufhört und der andere beginnt. Er starrt zu Boden, blinzelt erneut, sieht sein trübes, milchiges, verzerrtes Spiegelbild in der Lache Champagner. Sein Schnurrbart hat die Farbe von Lampenruß, die Augen liegen tief im Schädel, glitzern mit einem Anflug von Wahnsinn. Er schaut sich selbst an, sieht, dass Philip Blake zurückstarrt. Aber irgendetwas stimmt nicht. Philip sieht nämlich auch eine geisterhafte Maske, die über sein Gesicht gestülpt ist – ein fahles, ängstliches Scheinbild namens Brian.

Pennys wässrige, verzerrte Fressgeräusche treten in den Hintergrund, verschwinden beinahe, als Philip die Flasche ansetzt. Die Flüssigkeit und die Kohlensäure brennen in der Kehle. Der Geschmack erinnert ihn an bessere Zeiten, an Feiertage und Ferien, an Feste, an Familienfeiern, an denen man Nahestehende nach langer Zeit endlich wieder sieht. Es zerreißt ihn innerlich. Er weiß, wer er ist: Er ist der Governor, er ist Philip Blake, der Mann, der die Sachen anpackt.

Aber.

Aber …

Brian beginnt zu weinen. Er lässt die Flasche los, und mehr Champagner fließt über die Kacheln hin zu Penny. Sie hat keine Ahnung von dem unsichtbaren Krieg, der in diesem Moment im Kopf ihres Wärters tobt. Brian schließt die Augen, die Tränen strömen trotzdem über seine Wangen, bilden Rinnsale.

Er weint all den vergangenen Silvestertagen nach, den freudigen Momenten, die er mit Freunden verbracht hat … mit seinem Bruder. Er weint für Penny, für ihren traurigen Zustand, für den er sich die Schuld gibt. Er kann sich des Bildes nicht erwehren, das ihm jetzt immer wieder vor Augen schwebt: Philip Blake liegt in einem kalten, blutigen Haufen neben einem Mädchen – am Waldrand etwas nördlich von Woodbury.

Während Penny frisst, schlürft und schmatzt und Brian vor sich hin weint, ertönt ein unerwartetes Geräusch aus der Wohnung.

Jemand klopft an seine Tür.

Es dauert eine Weile, ehe der Governor das Geräusch überhaupt wahrnimmt. Das Klopfen hat einen kurzen, zögerlichen Rhythmus, lässt aber nicht nach, bis Philip endlich aus seiner Erstarrung gerissen wird.

Seine Identitätskrise ist wie weggeblasen. Der Vorhang vor seinem Gehirn hat sich zurückgezogen.

Jetzt ist es definitiv Philip, der sich auf die Beine rafft, den Chirurgenhandschuh von der Hand pellt, sich abklopft, das vollgesabberte Kinn mit dem Pulloverärmel abwischt, die Stiefel anzieht, die langen Strähnen aus den Augen streift, die Emotionen runterschluckt, aus der Kammer geht und die Tür hinter sich abschließt.

Es ist Philip, der mit seinem typischen Schritt durch das Wohnzimmer geht. Sein Puls wird wieder langsamer, er saugt frische Luft in die Lungen. Jetzt ist er wieder ganz der Governor – mit klaren, scharfen Augen. Beim fünften Mal Klopfen öffnet er die Tür. »Was zum Teufel ist so verdammt wichtig, dass ich um diese Zeit …«

Obwohl er die Frau noch gar nicht richtig einordnen kann, hält er inne. Er hat einen seiner Männer erwartet, Gab oder Bruce oder Martinez, die ihn wegen irgendeiner Kleinlichkeit wie einem Feuer oder mal wieder einem Kampf zwischen den Stadtbewohnern nerven.

»Passt es vielleicht gerade nicht? Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?«, schnurrt Megan Lafferty. Ihr Kopf ist träumerisch zur Seite geneigt. Sie lehnt am Torpfosten. Die Bluse unter ihrer Jeansjacke ist aufgeknöpft und gibt den Blick auf einen üppigen Ausschnitt frei.

Der Governor starrt sie mit seinem steten Blick an. »Schätzchen, ich habe keine Ahnung, was du vorhast, aber ich bin gerade sehr beschäftigt.«

»Hab mir nur gedacht, dass du vielleicht ein bisschen Gesellschaft vertragen könntest«, gibt sie mit gespielter Unschuld zum Besten. Sie sieht aus wie das typische Flittchen: Ihre weinfarbenen Locken hängen in verlockenden Strähnen über die von Drogen entspannten Gesichtszüge. Außerdem trägt sie zu viel Make-up, beinahe wie ein Clown. »Aber ich verstehe das durchaus, wenn du so viel zu tun hast.«

Der Governor seufzt. Ein Lächeln zieht seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe. »Irgendwie machst du nicht den Eindruck, als ob du gekommen bist, um dir ein bisschen Mehl zu leihen.«

Megan wirft einen Blick über die Schulter. Die Angst steht ihr im Gesicht geschrieben. Außerdem blickt sie sich immer wieder um, lässt ihn von den Schatten des leeren Korridors bis zur Tür wandern und kratzt sich ihr Tattoo mit dem chinesischen Charakter an ihrem Ellenbogen. Niemand kommt jemals hierher. Die Wohnung vom Governor ist tabu, selbst für Gabe und Bruce.

»Ich … Ich habe nur gedacht … Ich …«, stottert sie.

»Musst keine Angst haben, Schätzchen«, beruhigt der Governor sie endlich.

»Ich wollte nicht …«

»Jetzt komm schon rein«, lädt er sie ein und nimmt ihren Arm. »Ehe der Tod dich da draußen holt.«

Er zieht sie in den Flur und schließt dann die Tür hinter ihr. Das Geräusch des Bolzens erschreckt Megan. Sie fängt schneller an zu atmen, und der Governor kann nicht anders, als das Heben und Senken ihrer überraschend üppigen Brüste unter der Bluse, ihre kurvenreiche Figur und ihre drallen Hüften zu bemerken. Dieser kleine Flitzer ist zum Fortpflanzen bereit. Der Governor überlegt, wann er das letzte Mal ein Kondom benutzt hat. Wann hat er das letzte Mal überhaupt welche gekauft? Liegen vielleicht noch welche im Medizinschrank herum? »Kann ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?«

»Gerne.« Megan schaut sich um, nimmt die spartanisch eingerichtete Wohnung in sich auf – die Überreste von Teppichen auf dem Boden, die nicht zueinanderpassenden Stühle, das Sofa, das aus irgendeinem Diakonie-Laden hätte stammen können. Für einen kurzen Augenblick runzelt sie die Stirn, rümpft die Nase, riecht vielleicht sogar den Gestank aus der Wäschekammer. »Hast du Wodka?«

Der Governor grinst sie an. »Könnte sein, dass ich noch etwas finde.« Er geht zur Bar neben dem mit Brettern verschlagenen Fenster, holt eine Flasche hervor und gießt zwei Finger breit Wodka in zwei Pappbecher. »Habe auch irgendwo Orangensaft«, murmelt er und findet dann den angebrochenen Karton.

Er gesellt sich mit den Getränken wieder zu ihr. Megan gießt sich den gesamten Inhalt des Bechers in einem Schluck die Kehle runter. Sie macht den Eindruck, als ob sie tagelang in der Wüste verschollen war und dies die erste Flüssigkeit zwischen ihren Zähnen ist. Sie wischt sich den Mund ab, rülpst und entschuldigt sich: »Oh … Tut mir leid.«