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»Hallo! Hey – immer mit der Ruhe, Schwester!« Gabe stellt sich Lilly in den Weg. Der schwer gebaute Mann mit dem Stiernacken und dem Bürstenschnitt ergreift Lillys Arm. »Ich weiß, dass sie eine Freundin von Ihnen war …«

»Ich will sie sehen!« Lilly reißt sich los, aber Gabe schnappt sie sich von hinten und legt ihr den Arm um. Lilly versucht krampfhaft, sich aus der unmöglichen Situation zu befreien. »LASS MICH VERDAMMT NOCH MAL IN RUHE!«

In drei Metern Entfernung auf dem versengten braunen Gras des Parks kniet Bruce, der große schwarze Mann mit der Glatze neben dem mit dem Laken bedeckten Leichnam. Er lädt sein MG mit einem neuen Magazin. Seine Miene ist finster, er atmet langsam und tief, bereitet sich offensichtlich auf etwas Unangenehmes vor. Er ignoriert alles um ihn herum.

»LASS MICH IN RUHE!« Lilly will nicht aufhören, sich zu wehren, die Augen ständig auf den Leichnam gerichtet.

»Jetzt führen Sie sich doch nichts so auf«, zischt Gabe. »Sie machen es doch viel schlimmer, als …«

»Lass sie los!«

Die tiefe, von zu vielen Zigaretten gezeichnete Stimme ertönt hinter den beiden, und sowohl Lilly als auch der schwere Mann erstarren, als ob sie eine Hundepfeife gehört hätten.

Sie blicken beide über die Schulter und sehen den Governor im Kreis der Schaulustigen, die Hände auf die Hüften gestemmt. Seine beiden mit Perlen bestückten .45er aus Armeebeständen stecken links und rechts im Gürtel im Stil eines echten Revolverhelden, seine langen Rockstar-Haare – so schwarz wie Tusche – sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, mit dem der Wind spielt. Die Krähenfüße um seine Augen und die Linien, die seine eingefallenen Wangen zeichnen, werden immer größer und tiefer, je finsterer er dreinblickt. »Ist schon gut, Gabe … Lass die Lady sich von ihrer Freundin verabschieden.«

Lilly eilt zu dem Leichnam auf dem Boden, kniet sich nieder und starrt auf das zugedeckte Etwas. Sie hält sich die Hand vor den Mund, als ob sie die angestauten Emotionen nicht herauslassen will. Bruce entsichert das Maschinengewehr und geht ein paar Schritte zurück. Er steht einfach nur da und starrt auf Lilly, während die Menge um sie herum immer leiser wird.

Der Governor geht zu ihr, hält aber aus Respekt Abstand.

Lilly zieht das Laken von dem Leichnam und beißt die Zähne zusammen, als sie in das purpurgraue Gesicht der Frau blickt, die einmal Megan Lafferty war. Ihre Augen sind so angeschwollen, dass sie nicht mehr zu öffnen sind, der Kiefer von der Totenstarre wie festzementiert, und das blutlose Puppengesicht aus Porzellan macht den Eindruck, als ob es von Millionen von Haarfrakturen durchzogen sei. Die dunklen Äderchen sind offenbar schon in einem fortgeschrittenen Stadion der Verwesung. Das Gesicht ist für Lilly sowohl fürchterlich anzuschauen als auch unerträglich ergreifend. Es beschwört die ganzen Erinnerungen an die verrückten Sprayberry-Highschool-Tage herauf, als die beiden Mädchen Joints auf der Toilette geraucht haben, auf das Schuldach geklettert sind, um Steinchen auf die spielenden Sportskanonen auf dem Basketballplatz zu werfen. Megan und Lilly waren über Jahre hinweg beste Freundinnen, und trotz all ihrer Fehler – und es waren nicht zu wenige an der Zahl – hat Lilly sie stets als genau das in Erinnerung. Jetzt kann sie nicht mehr aufhören, dieses Überbleibsel ihrer frechen Freundin anzustarren.

Lilly verschlägt es den Atem, als Megans geschwollene purpurne Lider plötzlich aufgehen und milchig-weiße Augen sie anstarren.

Lilly verharrt, während der schwarze Mann mit dem rasierten Schädel auf sie zueilt. In den Händen hält er seinen .45er, den er schussbereit auf den Schädel des Kadavers richtet. Aber ehe er eine Chance hat, abzudrücken, ertönt die Stimme des Governors: »Nicht schießen, Bruce!«

Bruce wirft einen Blick über die Schulter, als der Governor auf ihn zukommt und meint: »Sie soll es tun.«

Lilly schaut zu dem Mann in dem langen Mantel, blinzelt, sagt aber kein Wort. Ihr Herz fühlt sich an, als ob es aus Asche wäre, das Blut in ihren Venen scheint zu gefrieren. Aus der Ferne dringt gewaltiges Donnern an ihre Ohren.

Der Governor geht auf sie zu. »Los, Bruce, mach schon. Gib ihr die Waffe.«

Eine schier unendlich lange Zeit scheint zu vergehen, aber irgendwie hält Lilly auf einmal das Schießeisen in der Hand. Neben ihr windet und krümmt sich das Ding, das einmal Megan Lafferty gewesen ist. Ihr Nervensystem kommt in Fahrt, ihr Mund öffnet sich, um schimmlige, graue Zähne zu entblößen. Lilly kann vor lauter Tränen kaum etwas sehen.

»Befördere deine Freundin ins Jenseits, Lilly«, drängt der Governor sanft.

Lilly hebt die Waffe. Megan reckt den Kopf hoch, will Lilly an die Kehle, wie ein Embryo, der aus dem Mutterkuchen schlüpft. Ihre Zähne klappern vor Hunger, schnappen nach ihr. Lilly hält die Mündung gegen ihre Stirn.

»Tu es, Lilly. Erlöse sie.«

Lilly schließt die Augen. Der Hahn brennt ihr am Finger wie ein Eiszapfen. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie, wie die Kreatur plötzlich zu ihr hochschnellt, den Mund aufgerissen und bereit, die Zähne in Lillys Halsschlagader zu versenken.

Es passiert so schnell, dass Lilly beinahe nichts von allem mitkriegt.

Ein Schuss ertönt.

Lilly fällt auf den Hintern. Die Waffe gleitet ihr aus der Hand, Megans Schädeldecke explodiert in einer dunkelroten Wolke, und der Bürgersteig wird mit Gehirnfetzen übersät. Der reanimierte Leichnam sackt zusammen und liegt noch immer halb vom Laken verdeckt auf dem Boden. Die haiartigen Augen starren gen Himmel.

Einen Augenblick lang liegt Lilly auf dem Rücken, die Wolken über ihr. Sie ist völlig verwirrt. Wer hat den tödlichen Schuss abgegeben? Hat Lilly nicht abgedrückt? Wenn nicht sie, wer dann? Sie reibt sich die Augen, versucht, den Governor anzublicken, der über ihr steht, aber er starrt auf etwas oder jemanden zu seiner Rechten, die Miene wie versteinert.

Dann steht Bob Stookey über dem Leichnam Megan Laffertys, den .38er noch immer in der Hand. Sein Arm hängt jetzt beinahe leblos von der Schulter herab. Die Waffe raucht noch.

Die Trostlosigkeit ist in Bobs wettergegerbtes, mit tiefen Falten versehenes Gesicht geschrieben. Der Anblick droht Lilly das Herz zu brechen.

Während der nächsten Tage achtet niemand auf das sich ändernde Wetter.

Bob ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich ins Nirwana zu saufen, um etwas so Nebensächliches wie Kalt- oder Warmfronten zu bemerken, während Lilly den Großteil ihrer Zeit damit verbringt, eine vernünftige Beerdigung für Megan zu organisieren. Sie soll ein Grab neben Josh erhalten. Der Governor verbringt die meiste Zeit damit, die nächste Schlacht in der Arena vorzubereiten. Er hat große Pläne für die nächsten Shows, bei denen auch Zombies kämpfen sollen.

Gabe und Bruce verarbeiten die toten Wachen in einem Nebenlager hinter der Rennbahn und zerlegen sie in ihre Einzelteile. Der Governor braucht sie, um sie an seine immer größer werdende Sammlung von Zombies zu verfüttern, die in einem geheim gehaltenen Raum tief in den Katakomben des Stadions eingesperrt sind. Die beiden Handlanger des Governors kommen kaum noch hinterher und werben einige der jüngeren Männer von Martinez’ Bande an, um mit Kettensägen die menschlichen Überreste in dem dreckigen, dunklen Schlachthaus neben der Leichenhalle in Zombiefutter zu verwandeln.

Während jeder seiner Arbeit nachgeht, ziehen die für den Januar so typischen Regenfälle mit langsamer, beinahe tückischer Art über das Land hinweg.

Anfangs verbreiten die Ausläufer des Sturms noch wenig Besorgnis – hier und da ein Schauer, der die Gullis mal überlaufen lässt oder die Straße mit Eis bedeckt. Die Temperaturen halten sich um den Gefrierpunkt. Aber das Blitzen in der Ferne und der aufgewühlte schwarze Himmel am westlichen Horizont tun das Ihre, damit die Leute zu reden beginnen. Niemand weiß genau, warum gerade dieser Winter ein außergewöhnlicher für Georgia werden sollte. Eigentlich herrschen in dem Bundesstaat für gewöhnlich milde Winter. Ab und zu gibt es sintflutartige Regenfälle, sogar Schnee oder vielleicht in seltenen Fällen einen Eissturm, aber niemand ist auf das vorbereitet, was in den kommenden Tagen über den Obstgürtel der Vereinigten Staaten hereinbrechen wird. Ein Tief aus Kanada nähert sich mit gewaltigen Schritten.