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Das Wetteramt in Peachtree City, das noch immer mithilfe von Generatoren und Kurzwellenradio läuft, hat vorige Woche Wetterberichte auf allen Frequenzen ausgegeben, die sie belegen konnten. Aber kaum ein Zuhörer zieht Nutzen aus Barry Goodens – so heißt der gestresste Wettermann – hastig vorgetragenen Warnungen, in denen er an den Blizzard von ’93 und die Überflutungen von 2009 erinnert.

Laut Gooden wird die bitterkalte Front, die in den nächsten Tagen den amerikanischen Süden heimsuchen wird, in den kommenden vierundzwanzig Stunden mit der feuchten, milden, warmen Luft über Central Georgia zusammentreffen. Das resultierende Chaos soll die »normalen« Winterstürme wie ein Kinderspiel aussehen lassen. Mit Winden bis zu hundertdreißig Stundenkilometern, gefährlichen Gewittern und einer Mischung aus Regen, Schnee und Eis verspricht der resultierende Sturm den von der Plage heimgesuchten Staat ins Chaos zu stürzen. Die hohen Temperaturunterschiede drohen, sämtliche Flüsse, Bäche und Abwasserkanäle in reißende Fluten zu verwandeln, und wie man erst vor zwei Jahren lernte, ist der Staat Georgia, insbesondere durch die Plage, völlig unvorbereitet für jegliche Art von Flutschäden.

Vor ein paar Jahren hat ein großes Unwetter den Chattahoochee River über die Ufer steigen lassen und das bevölkerungsreiche Gebiet von Roswell, Sandy Springs und Marietta unter Wasser gesetzt. Schlammlawinen haben Häuser aus den Fundamenten gerissen. Highways wurden unter- und überspült, und die Katastrophe endete mit Dutzenden Toten und Schäden in neunstelliger Höhe. Dieses Jahr aber – das Monster formiert sich derzeit über dem Mississippi und entwickelt sich schneller als für möglich gehalten – verspricht alles Dagewesene in den Schatten zu stellen.

Die ersten Anzeichen, dass etwas Außergewöhnliches auf sie zukommt, bemerken die Bewohner von Woodbury am Freitagnachmittag.

Bei Nachteinbruch gießt der Regen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad auf sie herab, angetrieben von Böen mit bis zu achtzig Stundenkilometern. Er prasselt gegen Woodburys Mauer und lässt Hochspannungsleitungen über dem Marktplatz im Wind singen und wie Peitschen knallen. Blitzsalven erhellen die dunklen Gassen mit silbrigem Licht wie Fotonegative, und in der Hauptstraße laufen sämtliche Gullis über. Die meisten Einwohner überdauern das Unwetter bei sich zu Hause, so dass Bürgersteige und verbarrikadierte Läden wie leer gefegt sind …

… aber nicht alle, denn eine Gruppe von vier Bewohnern hat sich raus in den Regen gewagt, um sich heimlich in einem Büro unterhalb des Stadions zu treffen.

»Alice, bitte lassen Sie das Licht aus«, ertönt eine Stimme von hinter dem in Schatten getauchten Schreibtisch. Eine Drahtbrille schimmert in der Dunkelheit. Es ist der einzige Hinweis, dass es sich um Dr. Stevens handelt. Das gedämpfte Getöse des Sturms unterstreicht die Stille, die im Raum herrscht.

Alice steht neben dem Lichtschalter und nickt. Nervös reibt sie sich die kalten Hände. Ihr Kittel sieht geradezu geisterhaft in der bedrückenden Atmosphäre des fensterlosen Büros aus, das Stevens als Lager benutzt.

»Du hast uns hier zusammengetrommelt, Lilly«, murmelt Martinez von der gegenüberliegenden Ecke. Er sitzt auf einem Stuhl und raucht einen Stumpen. Die Glut tanzt hin und her wie ein Glühwürmchen in der Finsternis. »Warum das Ganze? Was hast du auf dem Herzen?«

Lilly geht im Schatten beim Aktenschrank auf und ab. Sie trägt einen von Joshs Mänteln, Ausschussware von der Armee. Er ist so groß, dass sie beinahe wie ein Kind aussieht, das Zugang zum Kleiderschrank der Eltern bekommen hat. »Was ich auf dem Herzen habe? Mir wird langsam klar, dass ich nicht mehr länger so leben möchte.«

»Und das soll heißen?«

»Das soll heißen, dass das alles hier bis aufs Mark verdorben ist, und dieser Governor-Typ ist der krankhafteste von allen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das in der nächsten Zeit ändert.«

»Und …?«

Sie zuckt die Schultern. »Ich wäge die Alternativen ab.«

»Und die sind?«

Sie geht wieder auf und ab, wählt ihre Worte mit Bedacht: »Meine Sachen zu packen und einfach alleine abzuhauen gleicht einem Suizid … Andererseits versuche ich lieber mein Glück da draußen, als für immer und ewig hierzubleiben.«

Martinez wirft Stevens einen Blick zu. Der aber lauscht gebannt, während er seine Brille mit einem Tuch putzt. Die beiden Männer tauschen einen unbehaglichen Blick miteinander aus. Endlich erhebt Stevens das Wort: »Sie haben von Optionen geredet.«

Lilly hält inne und starrt Martinez an. »Diese Typen, mit denen du auf der Barrikade arbeitest … Vertraust du ihnen?«

Martinez nimmt einen weiteren Zug von seinem Stumpen, und der Rauch formt einen Kranz um seinen Kopf. »Mehr oder weniger.«

»Einigen mehr, anderen weniger?«

Er zuckt die Achseln. »Könnte man so sagen, ja.«

»Aber du vertraust diesen Typen mehr als anderen? Sie würden hinter dir stehen, wenn es hart auf hart kommt?«

Martinez starrt sie an. »Wovon reden wir hier, Lilly?«

Lilly holt tief Luft. Sie hat keine Ahnung, ob sie den Anwesenden hier im Raum trauen kann, aber sie scheinen die einzig vernünftigen Menschen in ganz Woodbury zu sein. Also entscheidet sie sich, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Nach einer langen Pause verkündet sie mit leiser Stimme: »Wir reden hier davon, die Macht zu übernehmen.«

Martinez und Stevens tauschen eine weitere Reihe von unbehaglichen Blicken aus, und jetzt ist auch Alice mit dabei. Die nervöse Stille wird von dem Unwetter draußen nur noch unterstrichen. Die Winde werden immer heftiger, und Donner schüttelt das Gebäude in immer kürzeren Abständen.

Endlich meldet sich Doc Stevens zu Wort: »Lilly, Sie wissen doch gar nicht, was Sie …«

»Nein!«, unterbricht sie ihn, schaut zu Boden und spricht in mit gefühlloser, monotoner Stimme: »Kein Geschichtsunterricht mehr, Doc. Die Zeiten sind vorbei. Es bringt nichts mehr, immer auf Nummer sicher zu setzen. Dieser Typ, dieser Philip Blake muss weg … Und das weiß jeder hier im Raum genauso gut wie ich.«

Unbeeindruckt schaut sie Martinez in die Augen: »Ich kenne Sie so gut wie gar nicht, Martinez, aber Sie scheinen den Kopf richtig herum aufgeschraubt zu haben … Sie scheinen der Mann zu sein, der eine Revolte anführen und Woodbury wieder auf Kurs bringen kann.«

Martinez erwidert ihren Blick. »Hey, jetzt mal immer mit der Ruhe, sonst tun Sie sich am Ende selbst noch weh.«

»Was auch immer … Keiner von Ihnen ist dazu verpflichtet, mir zuzuhören … Ist mir auch völlig egal.« Sie lässt die Augen jetzt von Martinez über Alice bis hin zu Stevens wandern. »Aber jeder hier weiß, dass ich recht habe. Das wird noch alles viel schlimmer werden in Woodbury, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und wenn Sie mich jetzt wegen Verrat denunzieren – egal, machen Sie, was Sie nicht lassen können. Aber das ist vielleicht unsere letzte Chance, diesen Freak zu beseitigen. Ich habe nicht vor, auf meinem Allerwertesten zu sitzen, während hier eine Bombe nach der anderen hochgeht und immer mehr unschuldige Leute sterben. Jeder hier weiß, dass ich recht habe.« Sie blickt zu Boden. »Der Governor muss weg.«

Eine weitere Donnersalve rüttelt an den Grundfesten des Stadions, während keiner wagt, das Wort zu erheben. Endlich meldet sich Alice zu Wort.

»Sie hat recht, es führt kein Weg daran vorbei.«