Выбрать главу

Lilly zieht einen Daunenmantel, ihre Fellstiefel und eine Mütze an. Dann blickt sie auf die Uhr auf ihrem Nachttisch.

Fünf Minuten später, um kurz vor Mitternacht, lässt sie die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich ins Schloss fallen und macht sich auf den Weg.

Die Stadt ist in der eiskalten Nacht wie leer gefegt, die Luft beißt vor Schwefel und gefrorenem Salz. Lilly muss sich vorsehen, um auf den gefrorenen Bürgersteigen nicht auszurutschen. Ihre Stiefel knirschen bei jedem Schritt. Sie blickt über die Schulter. Die Straßen sind leer. Sie schleicht um die Post herum und geht direkt auf Bobs Wohnung zu.

Die hölzerne Treppe, an der Megan sich aufgehängt hat, ist völlig mit Eis bedeckt. Als Lilly die Stufen hochsteigt, knarzt es unter ihr, und das Eis bricht unter ihren Stiefeln.

Sie klopft an Bobs Tür. Keine Antwort. Sie klopft erneut. Nichts. Sie flüstert Bobs Namen, aber keine Reaktion, kein Laut von innen. Sie legt die Hand auf die Klinke, drückt sie nieder. Zu ihrer Überraschung ist sie nicht abgeschlossen. Lilly öffnet die Tür und tritt ein.

Die Küche ist in Dunkelheit getaucht. Der Boden ist mit zerbrochenen Tellern und Tassen übersät, hier und da erkennt sie Lachen irgendeiner Flüssigkeit. Einen Augenblick lang wundert Lilly sich, ob sie nicht besser mit einer Waffe eingetreten wäre. Sie checkt das Wohnzimmer zu ihrer Rechten, sieht umgestoßene Möbel und Haufen dreckiger Wäsche.

Sie findet die batteriebetriebene Laterne auf der Arbeitsplatte, nimmt sie in die Hand und schaltet sie an. Lilly geht den Flur entlang und ruft: »Bob?«

Der Laternenschein spiegelt sich in den Scherben auf dem Boden. Eine von Bobs Arzttaschen liegt umgedreht im Flur, sämtlicher Inhalt über den Boden verstreut. An den Wänden schimmert etwas Klebriges. Lilly schluckt erneut ihre Angst hinunter und geht weiter.

»Irgendjemand zu Hause?«

Sie lugt in das Schlafzimmer am Ende des Flurs und sieht Bob. Er sitzt auf dem Boden, den Rücken gegen das ungemachte Bett gelehnt, der Kopf hängt schlaff nach vorn. Er trägt ein dreckiges Unterhemd und Boxershorts. Seine dünnen Beinchen sind weiß wie Alabaster, und er ist so still und ruhig, dass Lilly ihn für tot hält.

Aber dann sieht sie, dass seine Brust sich kaum merkbar hebt und senkt und sieht eine halb leere Flasche Jim Beam in seiner rechten Hand.

»Bob!«

Sie eilt zu ihm, hebt vorsichtig den Kopf und lehnt ihn gegen das Bett. Seine fettigen, schütteren Haare hängen schief von seinem Schädel herunter. Mit Lidern auf Halbmast, so dass man seine blutunterlaufenen, glasigen Augen nur schwerlich sieht, stammelt er kaum verständlich: »Zu viele … Die werden …«

»Bob, ich bin es, Lilly. Kannst du mich hören? Alles ist gut, ich bin hier.«

Sein Kopf fällt wieder nach vorne. »Die werden alle sterben … Wenn wir nicht die schlimmsten Fälle sichten …«

»Bob, wach auf! Du träumst. Alles ist gut, ich bin doch hier!«

»Voller Maden … Zu viele … Grässlich …«

Sie stellt sich auf, dreht sich um und verlässt das Schlafzimmer, um im verwahrlosten Badezimmer einen dreckigen Becher mit Wasser zu füllen. Mit dem Becher in der Hand kehrt sie zu Bob zurück. Sanft löst sie seine Finger von der Flasche Jim Beam und wirft sie dann mit Wucht gegen die Wand. Die Flasche zerbirst in tausend Scherben und hinterlässt einen feuchten Fleck auf der Blumentapete. Bob zuckt bei dem Lärm zusammen.

»Hier, trink«, fordert sie ihn auf und flößt ihm etwas Wasser in den Mund. Er hustet, schluckt es aber. Seine Hände zucken, und sein ganzer Körper schüttelt sich. Er versucht, Lilly anzuschauen, aber seine Augen spielen nicht mit. Sie legt ihm eine Hand auf seine fiebrige Stirn. »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, Bob. Aber das wird schon wieder. Ich bin ja da. Los, komm.«

Sie greift ihm unter die Arme, hebt ihn mit Mühe auf das Bett und legt ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann deckt sie ihn zu und redet sanft auf ihn ein: »Ich weiß, dass der Verlust von Megan dir zu schaffen macht, aber lass dich nicht gehen, Bob. Das Leben geht weiter.«

Er runzelt die Stirn, und der Schmerz steht ihm im Gesicht geschrieben. Er schaut zur Decke auf, erweckt den Anschein, als ob er lebendig begraben wurde und zu atmen versucht. Endlich lallt er: »Ich wollte doch nicht … Nie … Das war doch nicht meine Idee, dass …«

»Es ist okay, Bob. Du musst dich nicht erklären.« Sie streichelt ihm die Stirn und sagt dann mit ruhiger Stimme: »Du hast das gut gemacht. Alles wird gut. Hier wird sich einiges ändern, und zwar zum Guten.« Sie streichelt seine Wange, spürt seine kalte Haut und beginnt, leise Joni Mitchells »The Circle Game« zu singen. Wie in den alten Zeiten.

Bob lässt den Kopf auf das von Schweiß durchtränkte Kissen sinken. Sein Atmen wird ruhiger. Er schließt die Augen. Wie in alten Zeiten … Er fängt zu schnarchen an, aber Lilly singt noch etwas weiter.

»Wir … entfernen ihn«, haucht Lilly dem schlafenden Mann zu.

Sie weiß, dass er nichts mehr hört, aber sie redet mit sich selbst, mit einem tief begrabenen Teil ihrer Psyche.

»Es ist zu spät, um noch etwas zu ändern … Wir entfernen ihn …«

Lillys Stimme verstummt, sie sucht und findet eine Decke und verbringt den Rest der Nacht sitzend neben Bob, während sie auf den Anfang des neuen Tags wartet, der ihr Schicksal bestimmen wird.

Siebzehn

Am nächsten Morgen steht der Governor früh auf, um die letzten Vorbereitungen für die große Show zu treffen. Er ist bereits vor Morgengrauen auf den Beinen, zieht sich rasch an, macht sich Kaffee und verfüttert die letzten menschlichen Eingeweide, die er zuhause hat, an Penny. Um sieben ist er bereits auf dem Weg zu Gabes Wohnung. Die Salzstreuer sind ebenfalls schon bei der Arbeit, obwohl das Wetter angesichts der Geschehnisse der vergangenen Woche überraschend mild ist und die Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt liegen. Der Himmel macht auch keinen bedrohlichen Eindruck mehr, sondern ist nur noch mit einer blassgrauen Decke von zementfarbenen Wolken bedeckt. Es weht eine schwache Brise, und der anbrechende Tag scheint dem Governor wie perfekt für den kommenden Abend und die neuen und verbesserten Gladiatorenspiele.

Gabe und Bruce überwachen den Transport der gefangenen Zombies in den Katakomben unter dem Stadion. Es dauert einige Stunden, die Kreaturen aus den Untergeschossen in den Sammelraum zu lotsen, da die Zombies nicht nur widerspenstig sind, sondern der Governor auch will, dass niemand etwas davon mitkriegt. Allein bei dem Gedanken der Enthüllung des Rings des Todes läuft dem Governor das Wasser im Mund zusammen, und er will, dass die Zuschauer am Abend das Gleiche empfinden. Er verbringt den Großteil des Nachmittags in der Arena, überprüft immer wieder Vorhänge, die Beschallungsanlage, die Musikeinsätze, Lampen und Scheinwerfer, Tore, Schlösser, die Sicherheitsmaßnahmen und zu guter Letzt die Kämpfer selbst.

Die beiden übrig gebliebenen Wachen, Zorn und Manning, siechen noch immer in ihrer Zelle dahin und haben so gut wie alle Muskeln und sämtliches Körperfett verloren. Sie ernähren sich schon seit Monaten von nichts weiter als Überbleibseln alter Cracker und Wasser, sind ununterbrochen an die Wand gekettet und besitzen kaum noch einen klaren Gedanken. Ihre einzige Rettung ist ihr Training beim Militär – und ihre Wut, die während ihrer wochenlangen, qualvollen Gefangenschaft an ihnen genagt, immer mehr von ihnen Besitz ergriffen und sie in wild dreinblickende Monstern verwandelt hat, die nur darauf warten, Rache zu üben.

Mit anderen Worten: Wenn sie ihre Wärter nicht töten können, dann stürzen sie sich dankbar auf alles andere, was sich ihnen in den Weg stellt, einschließlich einander.

Die Wachen sind das letzte Schlüsselstück, und so wartet der Governor bis zum letzten Augenblick, um sie aus der Zelle zu geleiten. Gabe und Bruce schnappen sich drei der kräftigsten Arbeiter und weisen sie an, in die Zelle zu gehen, um den Wachen ein Beruhigungsmittel zu spritzen, damit man sie leichter transportieren kann. Sie haben es so oder so nicht weit. Mit Lederriemen um den Hals, über die Münder, um die Handgelenke und Fersen gebunden, werden sie die metallenen Treppen hinauf in einen Warteraum gezerrt.