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»Nun sag schon!«

»Es ist nur … Pass auf … Es geht ihm gerade nicht allzu blendend, verstehst du? Er glaubt, dass du sauer auf ihn bist.«

»Er glaubt was

»Er glaubt, dass du aus irgendeinem Grund eingeschnappt bist, und er hat keine Ahnung, warum.«

»Was hat er denn gesagt?«

Bob zuckt die Achseln. »Geht mich einen feuchten Kehricht an. Wir reden doch nur über … Was weiß ich, Lilly. Er wünscht sich nur, dass du ihn nicht ignorierst.«

»Tue ich doch gar nicht.«

Bob wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Tust du nicht?«

»Bob, wenn ich es dir sage …«

»Okay, pass auf.« Bob winkt nervös mit der Hand ab. »Ich will dir ja nicht sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Ich finde nur, dass zwei Leute wie ihr, zwei gute Leute … Ach, es ist einfach eine Schande. Und das zu diesen harten Zeiten …« Seine Stimme flaut ab.

Lilly verspürt, wie sie ein wenig versöhnlicher wird. »Ich weiß schon, was du damit sagen willst, Bob.«

Sie senkt den Blick zu Boden.

Bob schürzt die Lippen und setzt erneut zum Reden an. »Ich habe ihn heute Morgen gesehen, beim Brennholz. Er hat genügend Holz gemacht, als ob es für die nächsten dreieinhalb Winter halten müsste.«

Es sind nur hundert Meter vom Ladeplatz zum Holzlager, aber Lilly kommt es so vor, als ob die Entfernung schier unendlich groß sei.

Sie geht langsam, den Kopf gesenkt, die Hände in den Hosentaschen, damit man nicht sieht, wie sehr sie zittert. Auf ihrem Weg muss sie durch eine Gruppe Frauen, die Kleider in Koffer packen, vorbei am Zirkuszelt, vorüber an einer Schar Jungen, die ein Skateboard reparieren, und macht schließlich einen großen Bogen um ein paar Männer, die auf dem Boden liegende Waffen inspizieren.

Als sie an ihnen vorbeigeht – unter ihnen Chad Bingham, der die anderen wie ein Redneck-Despot anfährt –, wirft Lilly einen Blick auf die verschiedenen Pistolen. Es sind elf an der Zahl, alles verschiedene Kaliber, Hersteller und Modelle. Sie sind fein säuberlich wie in einer Schublade aufgereiht. Die beiden großkalibrigen Gewehre aus dem Kmart liegen daneben. Nur elf Pistolen, die Gewehre und kaum Munition – das ist alles, was den Siedlern zur Verfügung steht. Welch ein dünner Schutzschild, der sie von einer Katastrophe bewahren soll.

Lilly kriegt eine Gänsehaut im Nacken, als sie daran vorbeigeht. Die Angst brennt ihr ein Loch in den Bauch. Sie zittert mehr und mehr, und es kommt ihr vor, als hätte sie hohes Fieber. Lilly Caul hat schon immer gezittert. Sie kann sich noch gut daran erinnern, als sie eine Präsentation vor dem Aufnahmeausschuss des Georgia Institute of Technology halten musste. Sie hatte sämtlichen Notizen auf Karteikarten geschrieben und über Wochen hinweg geübt. Aber als sie in dem muffigen Sitzungszimmer, das einen Blick auf die North Avenue gewährte, vor den Lehrstuhlinhabern aufstand, begann sie derart zu zittern und zu beben, dass ihr sämtliche Karteikarten aus der Hand auf den Boden glitten und sie kein einziges Wort herausbrachte.

Und genau dieselbe Anspannung verspürt sie jetzt – nur tausendmal schlimmer. Dabei geht sie doch nur zum Zaun an der westlichen Grenze des Camps. Sie kann das Zittern in ihrem Gesicht spüren, ihre Hände beben wie wahnsinnig, und es kommt ihr so vor, als ob es beinahe ihren ganzen Körper lähmt. Die Ärzte in Marietta hatten einen Fachausdruck für derartige Symptome: »chronische Angststörungen«.

Seit Ausbruch der Plage hat sie derartige Lähmungserscheinungen stets unmittelbar nach den Attacken der Untoten durchmachen müssen. Zitteranfälle, die mehrere Stunden dauerten. Dieser aber schürft tiefer. Die Angst, die sie jetzt verspürt, stammt aus einer ihr unbekannten Quelle. Sie zieht sich zurück, wendet sich ihrer eigenen, verwundeten Seele zu, die durch die bodenlose Trauer über ihren Vater nur noch verstörter ist.

Der Klang einer Axt, die auf Holz trifft, reißt sie aus ihren Tagträumen.

Eine Gruppe Männer schart sich um das Brennholz. Der Wind wirbelt etwas Laub nahe der Baumgrenze auf. Die Luft duftet nach nasser Erde und Kiefernnadeln. Schatten tanzen hinter dem Blattwerk und stacheln Lillys Furcht nur noch weiter an. Sie erinnert sich daran, wie ein Zombie sie in der Nähe von Macon vor drei Wochen beinahe erwischt hatte. Er hatte hinter einem Müllcontainer gelauert und ist dann auf sie gesprungen. Jetzt sehen die Schatten im Wald genauso aus wie die Gasse, in der sie damals gestanden hatte – verfault, voller Gefahr und nach Verwesung und grässlichen Wundertaten stinkend: die Toten, die wieder zum Leben erweckt werden.

Erneut trifft eine Axt auf Holz. Lilly schreckt auf und wendet sich zum Holzhaufen.

Josh steht mit hochgerollten Ärmeln da, kehrt Lilly den Rücken zu. Ein länglicher Schweißfleck breitet sich zwischen seinen mächtigen Schulterblättern aus und rinnt sein Flanellhemd hinunter. Seine Muskeln zeichnen sich gegen das Material ab, die Nackenfalten pulsieren, während er mit einem steten Rhythmus seine Arbeit verrichtet: ausholen, zuschlagen, herausziehen, erneut ausholen, zuschlagen, WUMM!

Lilly geht zu ihm hin, räuspert sich. »Das machst du ganz falsch«, belehrt sie ihn mit zittriger Stimme und versucht, so locker wie möglich zu klingen.

Josh hält inne, die Axt mitten in der Luft. Er dreht sich zu ihr um und blickt sie an. Sein markantes Gesicht ist mit Schweißperlen übersät. Einen Augenblick lang macht er einen zutiefst schockierten Eindruck, dann aber kann Lilly in seinen Augen seine Überraschung ablesen. »Weißt du, ich habe mir schon gedacht, dass irgendetwas nicht ganz stimmt«, antwortet er schließlich. »Ich habe nur hundert Scheite alle Viertelstunde geschafft.«

»Du hältst sie falsch.«

Josh grinst. »Habe ich mir es doch gedacht. Irgend so etwas musste es ja sein.«

»Nimm sie am Ende, nicht so hoch am Kopf. Lass das Werkzeug die Arbeit für dich tun.«

»Gute Idee.«

»Soll ich es dir mal zeigen?«

Josh tritt beiseite und überlässt Lilly die Axt.

»So musst du es machen!« Lilly versucht, so charmant, geistreich und mutig wie nur möglich zu sein, doch sie zittert so erbärmlich, dass die Axt in der Luft vibriert, als sie versucht, sie emporzuheben. Sie holt aus, und die Schneide trifft seitlich auf das Holz, ehe sie im Erdreich verschwindet. Lilly reißt daran, um sie wieder zu befreien.

»Ah, das ist natürlich viel besser.« Josh staunt und nickt amüsiert. Er bemerkt ihren Zitteranfall, und sein Grinsen verschwindet. Eilig stellt er sich neben sie und legt eine riesige Hand neben die ihre auf den Stiel der Axt. Sie hält sich daran fest, als ob ihr Leben daran hängt, und versucht weiterhin, das Werkzeug aus dem Boden zu ziehen. Seine Berührung ist sowohl zärtlich als auch besänftigend. »Lilly, alles wird gut«, versucht er, sie zu beschwichtigen.

Sie lässt den Griff los und starrt ihn an. Ihr Herz fängt heftig zu pochen an, als sie seinen Blick erwidert. Sie kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Sie will ihre Gefühle in Worte kleiden, wendet sich aber schließlich voller Scham ab. Endlich findet sie ihre Stimme wieder: »Josh, können wir irgendwo reden? Unter vier Augen?«

»Wie machst du das?«

Lilly sitzt im Schneidersitz auf dem Boden unter den kolossalen Ästen der Eichen um sie herum, die ihre Schatten auf den weichen Teppich herabgefallenen Laubs werfen. Sie lehnt sich gegen einen gewaltigen Stamm und starrt auf die im Wind hin und her schwingenden Baumwipfel.

Josh erkennt den Blick in ihren Augen, die ins Nichts gerichtet sind. Er kennt ihn von Kriegsveteranen und Personal der Notaufnahme – der Blick immerwährender Erschöpfung, unfokussiert, kaputt, aufgerieben. Josh verspürt das Verlangen, ihren zierlichen, schlanken Körper in die Arme zu nehmen und ihr durch die Haare zu streichen, um alles besser zu machen. Aber irgendwie spürt er, weiß er, dass es jetzt nicht an der Zeit ist. Jetzt muss er zuhören.