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Lilly holt tief Luft, blickt noch immer zu Boden. Eine Träne kullert ihr die Wange hinab. »Josh, das ist wirklich nett von dir, aber …«

»Wir sind ein Team, okay?« Er beugt sich vor, blickt in ihr wunderhübsches Gesicht. »Okay?«

Sie nickt.

»Wir sind das dynamische Duo, okay?«

Wieder ein Nicken. »Okay.«

»Eine gut geölte Maschine.«

»Yeah.« Sie wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken. »Yeah, okay.«

»Dann wollen wir mal so weitermachen.« Er wirft ihr sein feuchtes Tuch zu. »Einverstanden?«

Es landet in ihrem Schoß, und endlich hebt sie den Kopf und schaut ihn an, lächelt sogar. »Verdammt, Josh. Das Ding ist ja widerlich!«

Es vergehen drei Tage, ohne dass es einen weiteren erwähnenswerten Angriff der Zombies gibt; lediglich einige kleine Vorfälle stören die Ruhe des Camps. An einem Morgen finden ein paar Jungen die noch zuckenden Überreste eines Untoten in einem Straßengraben. Der graue Schädel voller Maden starrt in immerwährenden Qualen zu den Baumwipfeln hinauf. Überhaupt hat es den Anschein, als ob der Körper nähere Bekanntschaft mit einem Mähdrescher gemacht hat, und wo einmal Gliedmaßen waren, ragen jetzt Stummel aus Schultern und Becken hervor. Niemand weiß, wie der Torso dahin gekommen ist. Chad erlöst die Kreatur mit einem einzigen Hieb einer Hacke durch den verrottenden Nasenknochen. Ein anderes Mal merkt ein bereits betagter Camper, dass er gerade auf einen Zombie kackt, und kriegt beinahe einen Herzinfarkt. Irgendwie hat der Untote es geschafft, in der Latrine stecken zu bleiben. Aber es dauert nicht lange, ehe einer der jüngeren Männer ihn mithilfe einer Zeltstange ins Jenseits befördert.

Ansonsten aber ist und bleibt alles ruhig, und das Zeltcamp erlebt eine ziemlich ruhige Wochenmitte.

Die Atempause erlaubt den Bewohnern, sich zu organisieren, die letzten Unterkünfte aufzubauen, Vorräte zu verstauen, die Umgebung zu erkunden, eine gewisse Routine zu entwickeln, Koalitionen, Cliquen und Hierarchien zu formen. Die Familien, insgesamt zehn an der Zahl, scheinen mehr Sagen zu haben als die Einzelgänger. Das hat wohl mit dem Risiko der größeren Verantwortung bezüglich der Kinder, vielleicht sogar mit einer Art Symbolik zu tun. Es könnte aber auch lediglich die Tatsache eine Rolle spielen, dass sie die genetischen Samen der Zukunft tragen. Ganz gleich, wie der Grund auch lauten mag, Familien haben Vorrang.

Aus den Patriarchen der Familien erhebt sich de facto Chad Bingham als Anführer. Jeden Morgen hält er kommunalen Familienrat im großen Zirkuszelt, verteilt Aufgaben mit der lockeren Lässigkeit eines Mafioso-Bosses. Täglich stolziert er ums Camp, eine Beule in der Wange von seinem Kautabak, in der Hand die Pistole, so dass auch jeder sie sieht. Lilly macht sich Sorgen, dass dieser Ersatz-Anführer seine Probleme mit dem immer näher kommenden Winter haben wird. Außerdem gibt es da noch die unheimlichen Geräusche, die immer wieder aus Richtung des Waldes an ihre Ohren dringen. Noch dazu hat er ein Auge auf Megan geworfen, die bereits mit einem anderen Familienvater zusammengezogen ist und dessen Frau quasi aus dem Zelt geschmissen hat. Lilly ist sich nicht sicher, ob der Anschein von Ordnung nicht eher einem Pulverfass gleicht.

Lillys und Joshs Zelte stehen keine zehn Meter voneinander entfernt, und jeden Morgen wacht sie auf, öffnet den Reißverschluss, trinkt ihren entkoffeinierten Instant-Kaffee, blickt auf Joshs Zelt und versucht, mit ihren Gefühlen für den großen Mann ins Reine zu kommen. Ihre Feigheit macht ihr noch immer zu schaffen, verfolgt sie, verseucht ihre Träume. Immer wieder taucht die mit Blut besudelte Bustür in Atlanta vor ihrem inneren Auge im Schlaf auf. Aber jetzt ist es nicht mehr ihr Vater, der draußen langsam zu Boden gezerrt wird, sondern Josh.

Seine anklagenden Augen starren sie an, bis sie in kalten Schweiß gebadet aufschreckt.

Während einer dieser mit Albträumen geplagten Nächte, in denen sie so oft wach liegt – eingepackt in ihren verschimmelten Schlafsack im Zelt, das sie auf einem verlassenen Zeltplatz gefunden hatte und das nach Rauch, getrocknetem Sperma und fahlem Bier stank –, vernimmt sie auf einmal merkwürdige Geräusche. Undeutlich und weit entfernt, aus der fernen Finsternis noch hinter dem Wald, mischen sich merkwürdige Töne von unbeholfenem Herumstolpern unter das übliche Rascheln von Laub und das Zirpen der Zikaden. Es erinnert Lilly an alte Schuhe, die in einem Trockner hin und her poltern.

Vor ihrem inneren Auge, das vor Terror bereits benebelt ist, beschwören die Laute fürchterliche Bilder von forensischen Schwarz-Weiß-Fotos, verstümmelten Leichen, bereits schwarz gefärbt von der Totenstarre, die sich aber trotzdem noch bewegen, von toten Gesichtern, die sich nach ihr umdrehen und sie gierig anstarren, und stummen Snuff-Filmen von tanzenden und wie wild zuckenden Kadavern hervor. Jede Nacht, die sie so schlaflos verbringt, grübelt Lilly über die Geräusche nach, was sie bedeuten können, was da draußen passiert und wann wohl der nächste Angriff kommt.

Einige der besonneneren Camper haben bereits ihre eigenen Theorien aufgestellt.

Ein junger Mann aus Athens namens Harlan Steagal, ein nerdiger Student mit dicker Hornbrille, hält allabendliche Philosophie-Runden am Lagerfeuer. Zugedröhnt mit Pseudoephedrin, Pulverkaffee und schlechtem Weed sucht ein halbes Dutzend Sonderlinge und Außenseiter nach Antworten auf die Fragen, die jeden beschäftigen: Woher kommt die Plage? Welche Zukunft hat die Menschheit? Und dringendste von allen: Inwiefern sind die Zombies berechenbar?

Die Denkfabrik ist sich in einem einig, nämlich, dass es zwei Möglichkeiten gibt: (a) Es handelt sich lediglich um wabblige Nervenenden mit Zähnen, die gegeneinander stolpern und einfach »ausgeschaltet« werden müssen, oder (b) sie haben mit komplexeren Vorgängen zu tun, hinter die noch kein Überlebender gekommen ist. Die letztere Möglichkeit wirft die Frage auf, wie die Plage von den Toten an die Lebenden übertragen wird – ist es der Biss der Untoten? Außerdem, wie steht es um das Hordenverhalten und mögliche Konditionierungs- oder Lernkurven und noch umfassendere genetische Imperative?

In anderen Worten, und wie Harlan Steagal es auszudrücken pflegt: »Sind diese bekackten, untoten Dinger irgendeine abgefuckte, trippige Evolutionssache?«

Drei Nächte lang überhört Lilly die bis tief in die Nacht andauernden Unterhaltungen, achtet aber kaum darauf. Sie hat keine Zeit für Mutmaßungen oder blödsinnige Analysen. Je länger die Zeltstadt nicht angegriffen wird, desto verletzlicher fühlt sich Lilly – trotz sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen. Jetzt, da die meisten Zelte und Unterkünfte stehen und die Autos eine Barriere um den gesamten Platz bilden, ist es ruhiger geworden. Die Leute leben sich ein, kümmern sich hauptsächlich um sich selbst, und die wenigen Lagerfeuer oder Kochstellen werden rasch wieder ausgemacht, damit man nicht unnötig ungebetene Gäste mit dem Rauch anlockt.

Und trotzdem wird Lilly von Nacht zu Nacht nervöser. Es kommt ihr vor, als ob eine Kaltfront auf sie zuzieht. Der wolkenfreie, kristallklare Nachthimmel macht jeden Morgen Frost Platz, der sich über den Boden, die Autos und die Zelte zieht. Die zunehmende Kälte spiegelt Lillys dunkle Vorahnung wider. Irgendetwas Fürchterliches liegt in der Luft.

Eines Abends, kurz bevor Lilly Caul sich in ihr Zelt legt, holte sie einen kleinen, in Leder gebundenen Kalender aus ihrem Rucksack. Seit Anfang der Plage, die immerhin schon mehrere Wochen anhält, haben die meisten elektronischen Geräte aufgehört zu funktionieren. Das Stromnetz existiert nicht mehr, Batterien sind leer, Dienstanbieter von mobilen Netzwerken oder Internet sind von der Erdoberfläche verschwunden, so dass die Welt sich wieder auf Ziegelsteine, Mörtel, Papier, Feuer, Fleisch, Blut, Schweiß und, wenn möglich, den Verbrennungsmotor beschränkt. Lilly ist nie im digitalen Zeitalter angekommen – ihre Wohnung in Marietta ist mit Schallplatten, Transistorradios, mechanischen Uhren und Erstauflagen vollgestopft –, so dass sie keinerlei Probleme hat, jetzt die Plage und ihren Lauf in ihrem kleinen, schwarzen Büchlein mit einem verblichenen, goldfarbenen Versicherungslogo auf Papier festzuhalten.