Das Licht der Straßenlaternen fällt durch die Zaunfugen. Die Toten durchbrechen den Lichtstrahl immer wieder, sodass er beinahe wie ein Stroboskop aussieht, wenn auch in Zeitlupe. Philip gefällt das überhaupt nicht. Er hört eine leise Stimme in seinem Kopf – die gleiche, die sich bei ihm auch kurz nach Sarahs Tod zu Wort meldete: Brenn das Haus nieder. Brenn das ganze verdammte Haus nieder.
Diese Stimme hat er an diesem Tag schon einmal gehört. Kurz nachdem Bobby das Zeitliche gesegnet hatte, wies sie ihn an, die Überreste des zwölfjährigen Jungen in Einzelteile zu zerlegen. Aber Philip schaffte es, der Stimme Einhalt zu gebieten und sie zum Schweigen zu bringen. Jetzt muss er wieder mit ihr kämpfen: Die Lunte ist angesteckt, Bruder. Die Uhr tickt …
Philip wendet sich vom Fenster ab und reibt sich die müden Augen.
»Es ist schon okay, lass es ruhig raus«, rät ihm eine andere Stimme, die aus der Dunkelheit zu ihm dringt.
Philip dreht sich um und sieht die Silhouette seines Bruders in der Küchentür auf der anderen Seite des Wohnzimmers stehen.
Er wendet sich erneut dem Fenster zu und antwortet nicht. Brian tritt zu ihm. In seinen zitternden Händen hält er eine Flasche Hustensaft. Seine Augen leuchten fiebrig in der Dunkelheit. Er ist den Tränen nahe. Dann sagt er mit leiser Stimme, um Penny, die auf der Couch schläft, nicht zu wecken. »Es ist keine Schande, es herauszulassen.«
»Was herauszulassen?«
»Hör zu«, setzt Brian erneut an. »Ich weiß, dass es dir auch nahegeht.« Er schnieft und wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab. Seine Stimme ist heiser, die Nase verstopft. »Ich will nur sagen, dass mir das mit Bobby wahnsinnig leidtut. Ich weiß, dass ihr beide …«
»Es ist vorbei.«
»Philip, was soll das …«
»Das hier ist vorbei – mit dem Haus, meine ich. Das können wir vergessen.«
Brian starrt ihn an. »Was soll das?«
»Wir verschwinden von hier.«
»Aber ich dachte …«
»Sieh dich um«, sagt Philip und zeigt ihm die steigende Zahl der Schatten auf der Green Briar Lane. »Wir ziehen sie an wie die Fliegen.«
»Schon. Aber die Barrikade hält doch noch …«
»Je länger wir hierbleiben, Brian, desto mehr wird das Haus zu einem Gefängnis.« Philip blickt aus dem Fenster. »Wir müssen weiter.«
»Wann?«
»Bald.«
»Morgen?«
»Morgen früh werden wir mit dem Packen anfangen und so viel an Vorräten wie möglich ins Auto laden.«
Einen Moment lang herrscht Stille.
Brian wirft seinem Bruder einen fragenden Blick zu. »Alles klar mit dir?«
»Ja.« Philip starrt immer noch auf die Straße vor dem Haus. »Geh jetzt schlafen.«
Beim Frühstück beschließt Philip, Penny zu erzählen, dass Bobby plötzlich fortmusste – »um sich um seine Eltern zu kümmern«. Die Kleine scheint mit der Erklärung zufrieden zu sein.
Einige Stunden später graben Nick und Philip im Garten hinter dem Haus ein großes Grab, während sich Brian im Haus um Penny kümmert. Er findet, dass Penny zumindest etwas von der Wahrheit erfahren sollte. Aber Philip erklärt ihm, dass er gefälligst die Klappe halten und sich da raushalten solle.
Jetzt wuchten Nick und Philip den großen, verhüllten Leichnam vor dem Rosenspalier hoch und lassen ihn vorsichtig in das Grab hinunter.
Es dauert länger als erwartet, das Loch wieder zu füllen. Beide häufen eine Schaufel nach der anderen die schwarze Georgia-Erde auf ihren Freund. Währenddessen trägt der Wind das furchtbare Stöhnen und Jammern der Untoten zu ihnen herüber.
Auch an diesem Tag ist es stürmisch und bewölkt. Die Geräusche der Zombie-Horden werden in den Himmel hinaufgetragen. Philip ist schweißgebadet. Dennoch schaufelt er weiter. Der ölige Gestank verwesenden Fleisches lässt nicht nach. Sein Magen verkrampft sich, als er die letzten Schaufeln Erde auf das Grab wirft.
Philip und Nick stehen sich gegenüber, das aufgefüllte Loch zwischen ihnen. Sie lehnen sich auf ihre Schaufeln. Der Schweiß kühlt ihnen den Nacken. Keiner sagt etwas, beide sind in Gedanken versunken. Endlich blickt Nick auf und fragt leise: »Möchtest du vielleicht ein paar Worte sagen?«
Philip wirft ihm einen Blick zu. Das Stöhnen und Jammern kommt aus allen Richtungen – wie das furchtbare Getöse eines Heuschreckenschwarms. Es ist inzwischen so laut, dass Philip es kaum schafft, einen klaren Gedanken zu fassen.
In dem Augenblick erinnert er sich auf einmal an jene Nacht, als sich die drei Freunde betranken und in das Starliter-Autokino an der Waverly Road einbrachen, wo sie in den Projektionsraum eindrangen. Bobby veranstaltete ein Lichtspiel auf der entfernten Leinwand. Philip musste so heftig lachen, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen, während die Silhouetten von Kaninchen und Enten vor Chuck Norris hin und her tanzten, der gegen böse Nazis kämpfte.
»Es gab so manchen, der nicht viel von Bobby Marsh gehalten hat und ihn sogar als Trottel abkanzelte«, sagt er jetzt mit gesenktem Blick. »Doch die so was meinten, haben ihn nicht gekannt. Er war loyal und witzig. Er war ein verdammt guter Freund … Und er ist wie ein Mann gestorben.«
Er schaut zu Boden, seine Schultern beben ein wenig. Seine Stimme bricht fast, sodass die Worte in dem immer lauter werdenden Ächzen und Stöhnen um sie herum kaum mehr zu hören sind. »Großer Gott, verwandle die Finsternis des Todes in deiner Gnade in den Morgen neuen Lebens und die Trauer des Abschieds in die Freude des Himmels.«
Philip steigen die Tränen in die Augen. Er beißt seine Zähne so stark zusammen, dass ihm der Kiefer wehtut.
»Durch unseren Retter, Jesus Christus«, stimmt Nick mit bebender Stimme ein, »der gestorben und auferstanden ist, um für ewig weiterzuleben. Amen.«
»Amen«, erwidert Philip mit einer Stimme, die er selbst kaum als die seine erkennt.
Das unerbittliche Stöhnen schwillt an. Es wird lauter und lauter.
»HALTET VERDAMMT NOCH MAL DIE FRESSE!«, brüllt Philip Blake in Richtung der Zombies. Der Lärm dringt aus allen Richtungen. »IHR TOTEN HURENSÖHNE!« Er dreht sich zum Zaun um. »ICH WERDE JEDEM EINZELNEN VON EUCH DEN SCHÄDEL ZERTRÜMMERN, IHR KANNIBALEN! ICH WERDE JEDEM DEN KOPF ABREISSEN UND AUS EUREM VERDAMMTEN KADAVER KLEINHOLZ MACHEN!«
Da fängt Nick zu schluchzen an. Philip, der nicht mehr weiterweiß, fällt auf die Knie.
Während Nick laut weint, starrt sein Freund auf das frische Grab, als ob er von dort eine Antwort erhoffte.
Falls es je Zweifel darüber gegeben hat, wer in der Truppe das Sagen hat – was nie der Fall war –, so ist es jetzt klarer als je zuvor, dass es Philip ist.
Sie verbringen den Rest des Tages mit Packen. Philip gibt einsilbig Befehle. Seine Stimme klingt heiser vor Stress. »Nehmt die Werkzeugkiste«, knurrt er. »Batterien für die Taschenlampen« und »Vergesst die Munition nicht.« Dann noch: »Wir brauchen auch Extradecken.«
Nick überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn sie ein zweites Auto mitnehmen würden.
Obwohl die meisten Wagen in der Straße nur darauf zu warten scheinen, gefahren zu werden – alles sind neue Luxusmodelle mit steckenden Zündschlüsseln –, gefällt Brian die Idee, dass sich die bereits dezimierte Truppe weiter aufteilt, ganz und gar nicht. Vielleicht hängt er jetzt auch noch mehr an seinem Bruder – diesem Zentrum der Schwerkraft.
Sie entscheiden sich also, den Chevy Suburban zu behalten. Das Ding ist schließlich fast wie ein Panzer.
Genau so etwas brauchen sie, um nach Atlanta zu gelangen.
Brian Blake, dessen Erkältung sich mittlerweile in der Lunge festgesetzt und sein Atmen zu einem asthmatischen Keuchen verwandelt hat, konzentriert sich auf die Arbeit. Er packt drei große Kühlboxen mit Essen: geräucherter Schinken und Aufschnitt, Käse, Saft, Joghurt, Limo und Mayonnaise. Brot, Minisalamis, Pulverkaffee, Wasser, Müsliriegel, Vitaminkapseln, Papierteller und Plastikbesteck: Alles kommt in einen Karton. Dazu noch eine Auswahl scharfer Küchenmesser: Hackbeil, Sägemesser und Ausbeinmesser – für den Fall, dass sie die eine oder andere Begegnung mit weiteren Monstern haben sollten.