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Bis jetzt.

Während der kommenden fünfundzwanzig Minuten, die sich Philip im Zickzackkurs durch die desolaten Straßen und Parkplätze kämpft, um parallel mit der Interstate zu bleiben und sich doch stetig dem Zentrum der Stadt zu nähern, betrachtet Brian durch die getönten Scheiben des SUV das echte Atlanta wie einen flimmernden Diavortrag forensischer Fotos eines Tatorts. Er starrt auf Sackgassen voller Müll und Unrat, auf brennende Abfallberge, geplünderte Sozialwohnungen, eingeschlagene Fensterscheiben, schmutzige Laken, die aus Gebäuden hängen, auf die verzweifelte Hilferufe geschmiert sind. Das hier ist wirklich eine Stadt – eine urzeitliche Totenstadt – übervölkert und nach Tod stinkend. Und das Schlimmste ist, dass sie noch nicht einmal bis zum Zentrum vorgedrungen sind.

Um 10.22 Uhr findet Philip Blake die Capital Avenue, eine breite, sechsspurige Straße, die sich am Turner-Field-Baseballstadion vorbeiwindet, ehe sie in die Stadtmitte führt. Er macht die Stereoanlage aus. Die Stille dröhnt jetzt in ihren Ohren, als sie auf die Capital Avenue einbiegen und langsam nach Norden fahren.

Die Straße ist mit zurückgelassenen Autos übersät, die aber weit genug auseinanderstehen, sodass Philip den Escalade sicher hindurchlenken kann. Die Spitzen der Wolkenkratzer zu ihrer Linken sind so nahe, dass sie im Dunst wie Großsegel von Rettungsschiffen leuchten.

Niemand sagt ein Wort, während sie an einem Betonklotz nach dem anderen vorbeirollen. Der Parkplatz des Baseballstadions ist weitgehend leer. Hier und da liegen einige umgestürzte Golfmobile herum. Wagen von Eis- und Hamburgerverkäufern stehen verlassen und mit Graffiti verschmiert in den Ecken des Parkplatzes. Vereinzelte Tote wandeln in der Ferne durch das kalte herbstliche Licht.

Sie gleichen streunenden Wölfen, die sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten können.

Philip fährt das Fenster herunter und lauscht. Der Wind pfeift. Es riecht merkwürdig – eine Mischung aus verbranntem Gummi, geschmolzenen Schaltkreisen und irgendetwas Öligem, etwas wie fauliger Talg. Von weit weg dringt ein Knattern und Tuckern zu ihnen, das die Luft wie ein gewaltiger Motor vibrieren lässt.

Brians Magen dreht sich beinahe um, als bei ihm der Groschen fällt: Wenn die Flüchtlingscamps irgendwo im Osten liegen, irgendwo in den Eingeweiden der Stadt, sollte es dann nicht hier bereits Streifenwagen und Einsatzfahrzeuge geben? Schilder? Kontrollpunkte? Bewaffnete Soldaten oder Polizisten? Polzeihubschrauber? Gäbe es nicht irgendeinen Hinweis darauf, dass sie Hilfe erwarten können? Doch während ihrer ganzen Fahrt in die Stadt sahen sie lediglich wenige unklare Hinweise, dass es noch anderes Leben geben könnte. In der Glenwood Avenue glaubten sie, dass ein Motorrad an ihnen vorbeigerauscht wäre, aber ganz sicher waren sie sich nicht. Später in der Sydney Street behauptete Nick, dass er jemanden gesehen hat, der von Tür zu Tür rannte, aber beschwören wollte er es nicht.

Brian verdrängt die negativen Gedanken, als er das gewaltige Gewirr von Autobahnkreuzen und Abzweigungen in Form eines Kleeblatts gute fünfhundert Meter vor sich liegen sieht.

Die riesige betonierte Fläche führt die Hauptverkehrsadern Atlantas zusammen und markiert das östliche Ende der Innenstadt. Hier treffen die Interstates 20, 85, 75 und 403 aufeinander. Jetzt brennt die fahle Sonne auf das Schlachtfeld, das mit Autowracks und umgekippten Kombis verstopft ist. Brian merkt, wie sich der Escalade eine steile Brücke hocharbeitet.

Capital Avenue thront auf riesigen Pfeilern über den Autobahnkreuzen. Philip geht vom Gas und schlängelt sich mit nicht einmal fünfundzwanzig Stundenkilometern durch die herumliegenden Wracks.

Brian spürt, dass etwas seine linke Schulter berührt. Es ist Penny, die ihn auf etwas aufmerksam machen will. Er dreht sich um und blickt sie fragend an.

Sie lehnt sich zu ihm hin und flüstert ihm etwas zu. Es klingt wie: »Ich muss sein machen.«

Brian ist verdutzt. »Du musst sein machen?«

Sie schüttelt den Kopf und flüstert es erneut.

Jetzt versteht Brian sie. »Ach so! Klein. Geht es noch eine Minute, Penny?«

Philip horcht auf und wirft den beiden einen Blick über den Rückspiegel zu. »Was ist los?«

»Sie muss mal.«

»Ach du meine Güte«, stöhnt Philip. »Tut mir leid, Schatz, aber das geht jetzt ganz schlecht. Halte bitte noch etwas durch, ja?«

Penny flüstert Brian zu, dass sie wirklich dringend mal muss.

»Philip, entweder jetzt oder es ist zu spät«, informiert Brian seinen Bruder.

»Versuch es dir zu verkneifen, Schatz.«

Sie kommen an den Scheitelpunkt der Brücke. Nachts, wenn man auf der Capital Avenue über Atlanta steht, muss der Anblick der Stadt majestätisch sein. In etwa hundert Metern wird der Escalade aus dem Schatten eines großen Gebäudes tauchen. Nachts leuchten die angestrahlten Gebäude der Stadt auf und geben ein atemberaubendes Panorama mit der Kuppel des Kapitols im Vordergrund ab, eingerahmt von der funkelnden Kathedrale aus Wolkenkratzern.

Dann tauchen sie aus dem Schatten des Gebäudes auf und erblicken die vor ihnen liegende Stadt in ihrer ganzen Pracht. Philip macht eine Vollbremsung.

Der Escalade kommt abrupt zum Stehen.

Einen unendlich langen Augenblick sitzen sie wie gelähmt da.

Die linke Straße führt an der marmornen Fassade des altehrwürdigen Kapitols vorbei. Es ist eine Einbahnstraße, die mit verlassenen Autos vollgestopft ist. Doch deshalb sind sie nicht wie vom Blitz getroffen. Es ist vielmehr das, was auf der Capitol Avenue von Norden her auf sie zukommt.

Penny macht in die Hose.

Das Empfangskomitee, zahlreich wie eine römische Armee und planlos wie eine Herde gigantischer Arachnoiden, stolpert vom Martin Luther King Drive auf sie zu. Es ist noch einen guten Häuserblock entfernt. Die Zombies kommen aus dem Schatten der Regierungsgebäude. Es sind so viele, dass es eine Weile dauert, bis die vier das wahre Ausmaß wahrzunehmen vermögen. Jedes Stadium der Verwesung ist vertreten. Sie kriechen aus Häusern, Türen, Fenstern, Gassen, begrünten Parks – aus allen Ecken und Winkeln. Die gesamte Straße ist überfüllt. Die Welle rollt wie ein durchgedrehter Spielzeugzug auf sie zu, angelockt von dem Geräusch des Autos, dem Geruch und der Tatsache, dass Frischfleisch auf sie wartet.

Alt und Jung, Schwarz und Weiß, Männer und Frauen, ehemalige Geschäftsleute, Hausfrauen, Beamte, Zuhälter, Kinder, Verbrecher, Lehrer, Anwälte, Krankenpfleger, Polizisten, Müllmänner und Prostituierte. Jedes Gesicht faulig und zersetzt – wie die in der Sonne verrottenden Früchte einer Obstplantage. Tausende von leblosen, metallisch wirkenden Augen richten sich wie eine Einheit auf den Escalade, Tausende von wild gewordenen Ortungssystemen aus der Urzeit starren hungrig auf die Neuankömmlinge.

Während dieses Augenblicks des totalen Horrors und der Stille wird Philip blitzschnell einiges klar.

Er merkt, dass der verräterische Gestank der Horde durch das offene Fenster, vielleicht sogar durch das Ventilationssystem der Klimaanlage eindringt – dieser widerliche, nach ranzigem Speck und Scheiße stinkende Geruch. Schlimmer noch: Er merkt, dass das merkwürdige Geräusch, das dumpfe Dröhnen, das sie zuvor gehört haben, als er das Fenster herunterließ – das vibrierende Surren in der Luft, als ob eine Million Hochspannungsleitungen unter voller Belastung stünden –, das Geräusch einer Stadt voller Toter gewesen ist.

Ihr kollektives Gestöhne, wie sie jetzt gleich einem einzigen gigantischen Lebewesen auf den Escalade zuströmen, lässt Philip erschauern.

Das alles bringt Philip Blake zu einer Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft. Bei dem Anblick der beinahe träumerisch langsamen Bewegungen der Zombies fällt bei ihm der Groschen: Ihr Vorhaben, ein Flüchtlingscamp in dieser Stadt aufzusuchen, scheint auf einmal so vernünftig zu sein, wie beispielsweise eine Stecknadel in einer Kloake zu suchen.