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Während dieses einen Augenblicks totaler Ohnmacht kehrt Brian Blake kurzfristig in Gedanken in seine Kindheit zurück. Der Wahnsinn dessen, was er sieht, packt ihn. Einmal nahm seine Mutter ihn und Philip mit zum Zirkus Barnum & Bailey in Athens. Sie waren damals vielleicht zehn und dreizehn Jahre alt, und die Hochseilakte, die Tiger, die durch Reifen sprangen, die Männer, die aus Kanonen durch die Luft geschossen wurden, die Akrobaten, die Zuckerwatte, die Elefanten, die Nebenvorstellungen, der Schwertschlucker, die menschliche Zielscheibe, die Feuerschlucker, die Frauen mit Bärten und der Schlangenbeschwörer hatten es ihnen angetan. Doch das, woran sich Brians am besten erinnert und woran er auch jetzt wieder denken muss, ist das Auto mit den Clowns. An jenem Tag in Athens, mitten in der Vorstellung, fuhr ein merkwürdig aussehendes Gefährt ins Zentrum der Manege. Es war eine Limousine mit bemalten Scheiben wie aus einem Trickfilm. Das Auto war tiefergelegt und mit einem Muster aus Leuchtfarben bemalt. Brian kann sich noch genau daran erinnern, wie er vor Lachen kaum an sich halten konnte, als sich die Clowns aus dem Auto kämpften. Zuerst war es einfach nur lustig, doch dann musste er immer mehr staunen, bis es richtiggehend bizarr wurde. Denn es hörte nicht auf. Immer wieder kam ein weiterer Clown aus dem Wagen. Sechs, acht, zehn, zwanzig, groß und klein – alle kletterten aus dem Auto, als ob es sich um einen speziellen Container für gefriergetrocknete Clowns handeln würde. Selbst als Dreizehnjähriger war Brian völlig gebannt, obwohl er wusste, dass es ein Trick sein musste – wie eine Luke unter den Sägespänen, auf denen der Wagen geparkt war. Doch das spielte keine Rolle. Das Schauspiel, das sich ihm bot, faszinierte ihn unglaublich.

Genau das gleiche Phänomen – oder zumindest eine perverse Kopie – spielt sich jetzt erneut vor Brians Augen auf einer Straße mitten in der Innenstadt von Atlanta ab. Er starrt fassunglos auf die Szene und versucht vergebens, die richtigen Worte für den Horror zu finden, der sich vor ihren Augen abspielt.

»Dreh um, Philip.« Brians Stimme klingt selbst für ihn auffallend hohl, als er die Scharen der Untoten an jeder Ecke der Stadt aufwachen sieht. Wenn man die vorherige Horde auf ihrem Weg in die Stadt mit einer römischen Legion vergleichen konnte, dann war das hier ein ganzes Imperium.

So weit das Auge reicht, strömen Untote aus jedem Loch, jedem Gebäude, hinter jedem Auto hervor – aus Wracks, aus den Seitengassen, aus zerborstenen Schaufenstern, aus den marmornen Eingängen der Regierungsgebäude, hinter den dünnen Stämmen ornamentaler Bäumchen und aus den traurigen Resten zerbombter Straßencafés. Man kann sie selbst in weiter Ferne erkennen, dort, wo die Straße im Schatten der Wolkenkratzer verschwindet. Ihre zerlumpten Silhouetten erinnern an einen riesigen Schwarm langsamer Insekten, die aufgeweckt wurden, weil man den Stein, unter dem sie lagen, wegnahm. Ihre gewaltige Anzahl scheint allen Regeln der Vernunft zu widersprechen.

»Nichts wie weg hier!«, presst Nick hervor.

Philip, stoisch und noch immer still, klammert sich weiterhin ans Lenkrad.

Nick wirft einen nervösen Blick nach hinten. »Wir müssen zurück!«

»Er hat recht, Philip«, sagt Brian und legt eine Hand auf Pennys Schulter.

»Was hast du vor?«, fragt Nick und sieht Philip an. »Warum drehst du nicht um?«

Brian starrt auf den Nacken seines Bruders. »Philip, das sind zu viele. Viel zu viele.«

»Um Gottes willen, wir sind im Arsch … Wir sind im Arsch!«, stottert Nick, der von dem atemberaubenden Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt, wie gelähmt wirkt. Die Untoten sind kaum einen halben Häuserblock entfernt und scheinen wie die erste Welle eines Tsunamis zu sein. Es sind Büroangestellte, Männer und Frauen, noch immer in Nadelstreifenanzügen und Kostümen. Doch die Kleidung hängt nur noch in Fetzen von ihnen herab, als ob sie sich gegenseitig angebissen und durch Wagenschmiere gezogen hätten. Sie stolpern umher wie seltsam aufgebrachte Schlafwandler.

Hinter ihnen drängen sich einen Häuserblock nach dem anderen unzählige weitere Zombies auf den Bürgersteigen und der Straße. Falls es Stoßzeiten in der Hölle gibt, dann können sie diesem Schauspiel ganz bestimmt nicht das Wasser reichen. Die dissonante Symphonie aus Jammern und Stöhnen Hunderttausender Untoter, die durch die Entlüftungsschlitze und Fenster des Escalade dringt, stellt Brian die Nackenhaare auf. Er lehnt sich nach vorne, um seinem Bruder vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. »Philip, die Stadt ist verloren.«

»So ist es. Erledigt. Wir müssen sofort umdrehen«, drängt Nick panisch.

»Einen Augenblick«, erklärt Philip mit kalter Stimme. »Wartet noch.«

»Philip, lass das«, ermahnt ihn Brian. »Die Stadt gehört den Zombies.«

»Ich habe gesagt, dass wir noch etwas warten!«

Brian starrt erneut auf den Nacken seines Bruders, und ihm läuft es kalt den Rücken hinunter. Jetzt weiß er, was Philip vorhat. ›Einen Augenblick‹ bedeutet nicht ›Wartet mal kurz, während ich überlege‹ oder ›Mir kommt gleich die zündende Idee‹.

Was Philip Blake mit ›Einen Augenblick‹ meint, ist …

»Seid ihr alle angeschnallt?«, fragt Philip eher rhetorisch. Brian wird es erneut eiskalt.

»Philip, bitte …«

Aber Philip hört nicht auf ihn, sondern tritt aufs Gaspedal. Der Escalade explodiert förmlich, als er losschießt. Philip steuert schnurstracks auf den wimmelnden Mob zu. Brian verschlägt es einen Moment lang die Sprache.

»PHILLY! NEIN!«

Nicks Schrei wird von Aufprallgeräuschen übertönt. Als ob ein Riese unentwegt auf eine gewaltige Trommel schlagen würde, fegt der Escalade über den Bürgersteig und zerfetzt dabei mindestens drei Dutzend Untote in Stücke.

Gewebe und Blut regnen auf das Auto nieder.

Brian ist so geschockt, dass er sich auf den Boden wirft und gemeinsam mit Penny den Ort namens Weg aufsucht.

Die kleineren Zombies stellen kein großes Hindernis dar. Sie sind eher wie Schießbudenfiguren. Sie zerplatzen unter dem Gewicht der Reifen und hinterlassen lediglich eine Spur verwesender Innereien. Die Größeren aber prallen von den Kotflügeln ab und fliegen durch die Luft, bis sie gegen Gebäude klatschen und wie überreife Früchte platzen.

Die Toten scheinen lernresistent zu sein. Selbst eine Motte flattert davon, sobald sie einmal der Flamme zu nahe gekommen ist. Aber dieser gewaltige Verband herumwandelnder Leichen in Atlanta hat offensichtlich nicht den geringsten Schimmer, warum man das glänzende schwarze Etwas, das auf sie zurast, nicht fressen kann – das gleiche schwarze Etwas, das ihre Kumpanen Sekunden zuvor in Brei verwandelt hat. Sie kommen weiterhin und denken nicht einmal daran, innezuhalten oder die Richtung zu ändern.

Philip ist über das Lenkrad gebeugt. Die Knöchel weiß vor Anstrengung, betätigt er immer wieder die Scheibenwischer, damit die Windschutzscheibe nicht völlig verschmutzt und er noch sehen kann, wohin er das Auto lenkt. Mit einer Geschwindigkeit zwischen fünfzig und achtzig Kilometer die Stunde pflügt er den Weg zur Innenstadt frei.

Manchmal schlägt er eine Schneise durch die dichte Menge, dass man meinen könnte, sie befänden sich in einem Wald voll blutender Früchte. Die herumfliegenden Arme und Finger gleichen Ästen, die sich an den Seiten des Escalade verklemmen. Es gibt auch freie Straßenabschnitte, auf denen der SUV lediglich einige wenige Zombies auf den Bürgersteigen oder am Rande der Straße trifft und Philip richtig Gas geben kann, während er von einer Seite zur anderen kurvt, um jeden Untoten mitzunehmen, den er kriegen kann. Dann kommt plötzlich wieder eine Wand aus Kreaturen auf sie zu. Das macht ihm am meisten Spaß, denn nur so fliegen die Fetzen so richtig.