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Die drei fangen zu spielen an.

Philip wird ganz ruhig.

Es kommt ihm so vor, als ob sein Herz plötzlich mit Helium gefüllt würde.

Es liegt nicht nur an der schlichten und unerwarteten Schönheit der Musik – die erste Nummer ist ein wunderbarer irischer Volkstanz mit einer traurigen, kräftigen Bassstimme und einem energischen Gitarrenriff, der an einen hundert Jahre alten Leierkasten erinnert. Es ist auch nicht die süße kleine Penny, die anscheinend von dem Lied ergriffen ist und mit einem völlig verträumten Ausdruck auf dem Boden sitzt. Es hat auch nichts mit der einfachen, aber doch zarten Melodie zu tun, die angesichts der ganzen Schrecklichkeiten, die um sie herum passieren, Philip das Herz bricht. Nein, es ist der Augenblick, als April zu singen anfängt, in dem sich Philips Seele mit Honig füllt:

There’s a shadow on my wall, but it don’t scare me at all

I’m happy all night long in my dreams

So klar wie eine Glasglocke, kein Ton sitzt falsch. Aprils spektakuläre, samtige Altstimme erfüllt das Wohnzimmer. Sie streichelt die Noten und verleiht dem Ganzen etwas beinahe Sakrales. Sie besitzt einen Touch Soul, eine Keckheit, die Philip an eine Kirchenchor-Sängerin in einer Kapelle auf dem Land erinnert.

In my dreams, in my dreams

I’m happy all night long in my dreams

I’m safe here in my bed, happy thoughts are in my head

And I’m happy all night long in my dreams

Die Stimme ist die Antwort auf ein schmerzhaftes Verlangen in Philip – etwas, das er seit Sarahs Tod nicht mehr erfahren hat. Plötzlich entwickelt er fast einen Röntgenblick. Während sie ihre Gitarre spielt und singt, bemerkt er auf einmal sämtliche kleinen Einzelheiten bei April Chalmers, die ihm vorher nicht weiter auffielen. Zum ersten Mal sieht er ein kleines Kettchen um ihren Fußknöchel, das Tattoo einer kleinen Rose neben ihrem Ellenbogen und die blassen Rundungen ihrer Brüste – so weiß wie Perlmutt – zwischen den Knöpfen ihrer Bluse.

Das Lied ist zu Ende, und jeder im Zimmer applaudiert – Philip am lautesten von allen.

Am nächsten Morgen gibt es ein dürftiges Frühstück aus altem Müsli und Trockenmilch. Philip sieht zu April hinüber, die in der Nähe der Eingangstür ihre Wanderstiefel anzieht und die Ärmel ihres Sweatshirts mit Klebeband zuklebt.

»Ich dachte, du möchtest vielleicht noch einen zweiten«, meint Philip freundlich. Er hält in jeder Hand einen Becher mit Kaffee. »Ist zwar nur Pulverzeug, aber besser als nichts.« Er sieht, wie sie auch ihre Fesseln mit Klebeband umwickelt. »Was machst du da eigentlich?«

Sie blickt auf den Becher. »Hast du den Rest der Fünf-Liter-Flasche dafür genommen?«

»Sieht ganz so aus.«

»Jetzt haben wir nur noch fünf Liter für uns sieben. Das reicht nicht mehr lange.«

»Was hast du vor?«

»Mach jetzt bitte kein Theater.« Sie schließt den Reißverschluss ihres Sweatshirts und zieht sich den Pferdeschwanz zurecht, ehe sie ihn in der Kapuze versteckt. »Das habe ich schon eine Weile geplant und will es alleine durchziehen.«

»Was?«

Sie öffnet den in die Wand eingelassenen Kleiderschrank und holt einen Baseballschläger aus Metall hervor. »Den haben wir in einer der Wohnungen gefunden. Wir dachten uns, dass er irgendwann einmal nützlich sein würde.«

»April, was hast du vor?«

»Kennst du die Feuerleiter auf der Südseite?«

»Du gehst da nicht alleine raus.«

»Ich schlüpfe aus der Wohnung 3F, steige die Leiter hinab und lenke die Beißer vom Gebäude fort.«

»Nein … nein

»Nur lange genug, bis wir uns neuen Proviant organisieren können. Dann komme ich wieder.«

Philip sieht seine eigenen Holzfällerstiefel bei der Tür stehen – genau dort, wo er sie letzte Nacht ausgezogen hat. »Reich mir doch bitte mal die Stiefel«, fordert er sie auf. »Wenn du schon den Entschluss getroffen hast, will ich nicht dazwischenfunken. Aber auf eigene Faust machst du das auf gar keinen Fall.«

Zwölf

Wieder einmal ist es der Gestank, der ihn beinahe umwirft, als er sich aus dem Fenster der Wohnung 3F lehnt – ein nach Kupfer riechender Cocktail aus menschlichen Ausscheidungen, die langsam in schimmeligem Schinkenspeck angebraten werden, ein Geruch, der so widerlich ist, dass sich Philip konzentrieren muss, um bei Sinnen zu bleiben. Seine Augen beginnen zu tränen, als er sich durch den Spalt zwängt. An diesen Gestank wird er sich nie gewöhnen.

Er klettert auf den rostigen Absatz aus Gusseisen. Dreimal muss er die Treppe im Zickzack hinunter – bei jeder Kurve wartet eine Standfläche auf ihn –, ehe er in einer Seitenstraße landet. Bereits beim ersten Schritt wackelt das gesamte Gerüst unter Philips Gewicht. Sein Magen macht einen Satz, als eine der Standflächen beinahe nachgibt. Hastig hält er sich am Geländer fest.

Das Wetter hat sich verändert. Es ist jetzt trist und feucht. Der Himmel ist grau in grau, und der Nordostwind fegt durch die tiefen Stadtschluchten. Zum Glück gibt es unten in der Seitenstraße nur vereinzelte Beißer, die an der südlichen Seite des Gebäudes herumirren. Philip blickt auf seine Armbanduhr.

In circa einer Minute und fünfundvierzig Sekunden wird April ihr Leben aufs Spiel setzen. Mehr braucht Philip nicht, um sich zu fangen. Rasch klettert er die erste Treppe hinunter. Das wackelige Gestell ächzt unter seinem Gewicht und droht bei jedem Schritt zusammenzubrechen.

Während des Abstiegs merkt er, wie sich die silbernen Augen der untoten Kreaturen unter ihm auf ihn richten. Das Klappern der Treppe hat sie aus ihrer Stumpfheit gerissen. Jetzt sind ihre primitiven Sinne auf ihn ausgerichtet, verfolgen ihn, riechen ihn, spüren die Vibrationen wie eine Spinne, die eine Fliege im Netz weiß. Dunkle Silhouetten, die er im äußersten Augenwinkel wahrnimmt, schlurfen langsam in seine Richtung. Immer mehr kommen um die Ecke des Haupteingangs zu ihm herüber, um nachzusehen, was da vor sich geht.

Das wird lustig, denkt er, als er vorsichtig zu Boden gleitet, um rasch über die Straße zu rennen. Fünfundsechzig Sekunden. Der Plan lautet, so schnell wie möglich alles über die Bühne zu bringen. Philip schleicht sich geschmeidig an den vernagelten Schaufenstern vorbei. Als er an der östlichen Ecke des Gebäudes ankommt, findet er einen zurückgelassenen Chevy Malibu mit einem Kennzeichen, das davon zeugt, dass er nicht in Georgia zugelassen wurde.

Fünfunddreißig Sekunden.

Als sich Philip neben den Malibu hinkniet und rasch seinen Rucksack abnimmt, hört er, wie die schlurfenden Schritte hinter ihm näher kommen. Seine Hände sind ruhig, als er die kleine benzingefüllte Colaflasche hervorholt. Das Benzin hat April im Keller des Hauses in einem Reservekanister gefunden.

Fünfundzwanzig Sekunden.

Er schraubt den Verschluss auf, steckt einen benzingetränkten Putzlappen hinein und stopft das Ganze in den Auspuff des Malibus. Der Lappen dient als Lunte und ragt gut zwanzig Zentimeter aus dem Rohr heraus. Er holt ein Feuerzeug hervor, entzündet es und hält es an den Stofflappen. Dann rennt er so schnell es geht in Deckung.

Zehn Sekunden.

Er schafft es über die Straße, drängt sich an ein oder zwei Beißern vorbei und springt in eine düstere Gasse hinter zwei Müllcontainer, ehe er die erste Explosion hört – das war die Colaflasche im Auspuff –, gefolgt von einem zweiten, viel lauteren Knall.