Philip duckt sich und bleibt kauernd auf dem Boden. Die ganze Straße vibriert, und ein Feuerball steigt empor, der selbst die dunkelsten Ecken im gesamten Umkreis erhellt.
Genau nach Plan, denkt April, während sie im Schatten des Eingangsbereichs wartet. Die Erschütterung reißt an der Glastür. Die Glühbirne, die über ihr zerplatzt, schimmert wie das Stroboskoplicht eines unsichtbaren Fotografen. Sie schielt durch die untere Hälfte der verriegelten Tür und beobachtet eine Veränderung in den Scharen der Untoten. Wie die Wogen eines Meeres, die von der Anziehungskraft des Mondes hin und her bewegt werden, beginnen die Horden dem Licht und den Geräuschen zu folgen. Die chaotische Masse trampelt langsam, aber stetig zur südlichen Seite des Gebäudes.
Silberpapier könnte einen Schwarm Spatzen kaum besser in den Bann ziehen als die beiden Explosionen die Beißer. Kaum ist eine Minute vergangen, ist die Straße vor dem Haupteingang so gut wie leer gefegt.
April wappnet sich und holt tief Luft. Sie rückt noch einmal die Tasche auf ihrem Rücken zurecht und schließt die Augen. Ein rasches, stilles Stoßgebet später springt sie hoch, schiebt den Riegel beiseite und öffnet vorsichtig die Tür.
Sie schleicht nach draußen. Der Wind weht ihr um die Nase, und der Gestank lässt sie beinahe würgen. Als sie über die Straße rennt, hält sie sich geduckt, um möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die plötzliche Reizüberflutung – der Gestank, die Nähe der Horde um die Ecke und das wilde Pochen ihres Herzens – droht einen Augenblick lang, sie abzulenken. In Windeseile kämpft sie sich von einer düsteren Ladenfront zur anderen vor. Zum Glück kennt sie sich hier einigermaßen aus und findet bald den Lebensmittelladen.
Wenn man es genau nimmt, brauchte April Chalmers elf Minuten und dreiunddreißig Sekunden, um sich durch die Eingangstür zu zwängen, den verkommenen Laden zu betreten und alles Nötige zu erledigen. Nur elfeinhalb Minuten, um eineinhalb große Taschen mit genügend Essen, Trinken und sonstigen Dingen zu füllen, damit sie, ihre Familie und die Neuankömmlinge wieder eine Weile Ruhe haben würden.
Aber für April Chalmers fühlt es sich nicht wie elfeinhalb Minuten, sondern wie eine halbe Ewigkeit an.
Sie schnappt sich zehn Kilo Lebensmittel, zehn Liter gefiltertes Wasser, drei Schachteln rote Marlboros, Feuerzeuge, Beef-Jerky, Vitamintabletten, Hustensaft und Medikamente gegen Erkältung, antibakterielle Salben und sechs Rollen Klopapier. All das befördert sie mit unglaublicher Geschwindigkeit in die bereitgestellten Taschen.
Das Ticken der Uhr begleitet sie ständig. Sie spürt es förmlich im Nacken. Schon bald wird sich die Straße wieder mit Kreaturen füllen. Die Beißer werden ihr garantiert den Weg abschneiden, wenn sie sich nicht innerhalb weniger Minuten auf den Rückweg macht.
Philip verballert ein weiteres halbes Magazin seiner Kugeln, während er sich zur Rückseite des Gebäudes zurückkämpft. Der Großteil der Beißer hat sich jetzt um die brennenden Überreste des Malibu versammelt. Sie gleichen einem Schwarm Insekten, der vom Licht angezogen wird. Philip räumt den Weg zum Innenhof frei, indem er nur zweimal abdrückt. Der erste Schuss lässt den Schädel eines Zombies in einem Jogging-Anzug explodieren, sodass er wie eine Marionette, deren Fäden abgeschnitten wurden, zu Boden stürzt. Der zweite Schuss gräbt eine Furche in den Kopf einer ehemaligen Obdachlosen. Ihre aufgedunsenen Augen flackern noch einmal auf, ehe auch sie leblos in sich zusammensackt.
Bevor die anderen Beißer eine Chance haben, sich auf ihn zu stürzen, springt er über den Zaun in den Innenhof und sprintet über das braune Gras.
Er klettert auf ein Vordach, von wo aus eine weitere Feuerleiter circa eineinhalb Meter über ihm an der weiß verputzten Mauer lockt. Philip greift nach einer Sprosse und klettert die Leiter hoch.
Plötzlich aber hält er inne. War der Plan vielleicht doch nicht so gut wie gedacht?
April befindet sich jetzt kurz vor dem kritischen Punkt ihrer Mission. Mittlerweile sind knapp zwölf Minuten vergangen, seitdem sie aus der Haustür geeilt ist, aber sie riskiert es trotzdem, noch einem anderen Laden einen Besuch abzustatten.
Einen halben Häuserblock weiter südlich wartet ein Ace Hardware Store auf sie. Das Schaufenster ist wie alle anderen eingeschlagen und leer geräumt, aber die Eisenstäbe sind weit genug auseinandergebogen, sodass sich eine schmale Frau wie April hindurchzwängen kann. Kurz darauf steht sie in der düsteren Eisenwarenhandlung und schaut sich um.
Sie füllt die zweite Tasche bis oben mit Wasserfiltern, um das Wasser der Toiletten und Spülkästen reinigen und trinken zu können, einer Schachtel Nägel, denn die alten wurden für die Barrikaden verwendet, Filzstiften und großen Rollen Papier, für Schilder, um etwaige andere Überlebende auf sich aufmerksam zu machen, Glühbirnen, Batterien, einigen Flaschen Spiritus und drei kleinen Taschenlampen.
Als sie zurück in Richtung Schaufenster eilt – die Taschen wiegen jetzt weit über zwanzig Kilo –, kommt sie an etwas vorbei, das auf dem Boden neben einigen Rollen Isoliermaterial liegt und nach einem Menschen aussieht.
April hält inne. Das tote Mädchen auf dem Boden hat nur ein Bein. Es ist zusammengekauert und lehnt mit dem Rücken an der Wand. Die Spuren aus Blut und Gewebe deuten darauf hin, dass sich das Geschöpf bis hierher geschleppt hat. Die Untote ist nicht viel älter als Penny. April kann sich nicht von ihr abwenden.
Ihr ist klar, dass sie sich so schnell wie möglich auf den Weg machen muss. Aber sie vermag sich nicht von der erbärmlichen, zerstückelten Leiche abzuwenden, die in ihrem eigenen Blut sitzt. Es kommt offensichtlich aus dem schwarzen Stumpen, der einmal ein Bein gewesen ist.
»Um Gottes willen! Ich kann es nicht«, flüstert April. Sie ist sich nicht sicher, was sie damit eigentlich meint: die Kreatur erlösen oder sie bis in alle Ewigkeit in dieser verlassenen Eisenwarenhandlung schmoren lassen.
April zieht den Baseballschläger aus dem Gürtel und stellt die Taschen ab. Vorsichtig nähert sie sich dem Mädchen. Die Tote auf dem Boden bewegt sich kaum …
»Es tut mir leid«, flüstert April und versenkt den Baseballschläger im Schädel des Mädchens. Der Schlag wird von einem feuchten Geräusch begleitet, das an brechendes Holz erinnert.
Der Zombie gleitet lautlos ganz zu Boden. April steht da, schließt für einen Moment die Augen und versucht, den Anblick aus ihrem Gehirn zu löschen – ein Anblick, der sie wahrscheinlich trotzdem für den Rest ihres Lebens verfolgen wird.
Zu sehen, wie der Schaft des Schlägers ein klaffendes Loch in einen Schädel reißt, ist schlimm genug. Aber was April in dem kurzen, fürchterlichen Augenblick mitbekam, bevor sie auf das Wesen einschlug, war noch schrecklicher: Entweder war es ein unbedeutendes Aufflattern bereits abgestorbener Nerven oder ein echtes Begreifen. Jedenfalls wandte sich das untote Mädchen in jenem Augenblick ab, als der Baseballschläger auf es niederzischte.
Ein Geräusch aus dem vorderen Teil des Ladens reißt April aus ihren Überlegungen. Rasch schultert sie die Taschen und eilt zum Ausgang. Doch sie kommt nicht weit. Abrupt hält sie inne, als sie bemerkt, dass ihr ein zweites Mädchen den Weg versperrt.
Es steht keine fünf Meter vor April zwischen den demolierten Metallgittern und trägt das gleiche Kleid wie das Geschöpf, das April gerade ins Jenseits befördert hat.
Zuerst glaubt April ihren Augen kaum zu trauen. Handelt es sich vielleicht um den Geist des Zombies, den sie soeben erlöst hat? Verliert sie jetzt den Verstand? Aber als das zweite Mädchen schlurfend den Gang entlang auf sie zukommt und schwarzer Speichel über ihre aufgeplatzte Lippe läuft, fällt bei April der Groschen: Zwillinge – dieses Mädchen hat noch beide Beine!