»O Gott! Daddy!« Tara kniet sich neben den alten Mann und reißt ihm den Sauerstoffschlauch von der Nase. Davids graues Gesicht hat jetzt eine gelbliche Farbe angenommen. Er keucht wie ein Fisch nach Luft, der auf Land versucht, Wasser zwischen die Kiemen zu bekommen.
»Er erstickt!« April eilt auf die andere Seite des Bettes und entwirrt den Schlauch des Sauerstofftanks, der vor dem Fenster auf dem Boden liegt. Der alte Mann hat ihn bei seinem Sturz vom Nachttisch gerissen.
»Daddy? Kannst du mich hören?« Tara gibt ihrem Vater in kurzen Abständen ein paar leichte Schläge auf die Wangen.
»Schau dir seine Zunge an!«
»Daddy? Daddy?«
»Tara, schau dir die Zunge an!« April stürzt mit Tank und Schlauch zu Tara und ihrem Vater. Philip, Nick, Brian und Penny schauen dem Drama unter der Tür zu. Philip fühlt sich machtlos. Er weiß nicht, ob er ins Zimmer treten oder stehen bleiben soll. Die beiden Frauen machen den Eindruck, als ob sie wüssten, was sie tun.
Vorsichtig öffnet Tara dem alten Mann den Mund und wirft einen Blick in seinen Rachen. »Alles in Ordnung.«
»Dad?« April kniet jetzt ebenfalls neben ihm und versucht, den Schlauch unter die Nase zu klemmen. »Daddy? Kann du mich hören? Daddy?«
David Chalmers keucht weiter, ohne ein Wort hervorzubringen. Seine Kehle knarzt schmerzhaft wie eine alte Schallplatte mit einem Sprung. Seine Augenlider – alt und durchsichtig wie die Flügel einer Eintagsfliege – fangen zu flattern an. Beinahe panisch tastet Tara seinen Nacken und Hinterkopf nach Verletzungen ab. »Keine Anzeichen von Blut«, verkündet sie. »Daddy?«
April legt eine Hand auf seine Stirn. »Eiskalt.«
»Ist der Sauerstoff an?«
»Natürlich!«
»Daddy?« April dreht ihren Vater vorsichtig um, bis er mit dem Sauerstoffschlauch über der Oberlippe auf dem Rücken zu ruhen kommt. Dann verpasst sie ihm erneut ein paar leichte Ohrfeigen. »Daddy? Daddy, kannst du uns hören? Daddy?«
Der alte Mann hustet. Seine Augenlider flattern noch immer. Dann öffnet er sie kurz und versucht, sich die Lunge mit Luft vollzusaugen, aber sein flacher Atem bleibt ihm im Hals stecken. Seine Augen sind nach hinten gerollt, und er scheint nur halb bei Bewusstsein zu sein.
»Daddy! Schau mich an!«, befiehlt April und dreht sein Gesicht vorsichtig zu sich. »Daddy, kannst du mich sehen?«
»Wir müssen ihn aufs Bett legen«, schlägt Tara vor. »Männer, könnt ihr uns helfen?«
Philip und Nick sind auf einer Seite, während Tara und Brian auf der anderen stehen. Sie zählen bis drei, heben dann David vorsichtig hoch und legen ihn aufs Bett. Die Federn ächzen unter seinem Gewicht, und der Sauerstoffschlauch verwickelt sich erneut.
Sofort entwirren Tara und April das Durcheinander und decken den alten Mann mit Decken zu. Nur noch sein aschfahles, eingesunkenes Gesicht lugt unter der Bettdecke hervor. Die Augen sind geschlossen, der Mund steht offen, und er atmet stoßweise. Sein Rasseln klingt wie ein alter Verbrennungsmotor, der nicht recht laufen will. Immer wieder flattern seine Lider, und in seinen Augen, wenn man sie sehen kann, ist ein leichter Schimmer zu erkennen. Die Lippen verziehen sich zu einer Grimasse. Schon entspannt sich sein Gesicht wieder, und er atmet weiter … Mehr schlecht als recht.
Tara und April sitzen einander gegenüber neben ihm und streicheln ihm die Wangen. Eine ganze Weile fällt kein einziges Wort. Aber es ist dennoch klar, dass alle das Gleiche denken.
»Glaubst du, dass es ein Schlaganfall war?«, fragt Brian einige Minuten später neben der gläsernen Schiebetür.
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht.« April läuft nervös auf und ab und kaut unentwegt an ihren Fingernägeln, während die anderen hilflos herumsitzen und sie anschauen. Nur Tara ist noch im Zimmer bei ihrem Vater. »Ohne medizinische Versorgung hat er so oder so schlechte Chancen.«
»Ist so etwas das erste Mal passiert?«
»Er hatte schon mehrmals Probleme mit dem Atmen, aber so schlimm war es noch nie«, erklärt April. Sie bleibt stehen. »Verdammt, ich wusste, dass es einmal so weit kommen würde.« Sie wischt sich die Augen, die tränenfeucht sind. »Außerdem ist das der letzte Sauerstofftank. Das war es dann.«
Philip erkundigt sich nach den Medikamenten.
»Klar haben wir seine Medizin. Aber die hilft ihm jetzt wenig. Er braucht einen Arzt. Der alte Dickkopf hat schon seinen letzten Termin vor einem Monat sausen lassen.«
»Und was haben wir so an Pillen und Arzneien?«, will Philip wissen.
»Keine Ahnung. Da ist ein Haufen Zeug aus den Wohnungen. Antihistamin und so.« April beginnt wieder, ihre Runden zu drehen. »Außerdem gibt es ein paar Erste-Hilfe-Kästen. Toll. Das mit Dad ist ernst, und ich habe keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen.«
»Wir müssen Ruhe bewahren und überlegen.« Philip fährt sich über den Mund. »Im Augenblick scheint er ruhig zu sein – oder? Seine Atemwege sind frei. Man kann nie wissen, aber vielleicht … Vielleicht erholt er sich ja einfach wieder.«
»Und was ist, wenn nicht?« April starrt ihn an.
Philip steht auf und geht zu ihr. »Hör zu. Wir müssen einen kühlen Kopf behalten.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir passen gut auf ihn auf. Uns wird schon etwas einfallen. Der ist hart im Nehmen, dein Dad.«
»Hart im Nehmen, aber am Sterben«, sagt April, und eine Träne läuft ihr über die Wange.
»Das weißt du nicht«, versucht Philip sie zu beruhigen und wischt ihr die Träne aus dem Gesicht.
Sie blickt ihn an. »Guter Versuch, Philip.«
»Ernsthaft.«
»Guter Versuch.« Sie wendet das Gesicht ab, und ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck drückt ihre tiefe Verzweiflung aus. »Guter Versuch.«
Die gesamte Nacht über sitzen die Frauen am Bett ihres Vaters. Eine batteriebetriebene Lampe erhellt sein blasses Gesicht. Die Wohnung ist so eisig wie ein Kühlhaus, und April kann Taras Atem über das Bett hinweg sehen.
Der alte Mann liegt fast die ganze Zeit über bewegungslos da. Lediglich seine eingefallenen Wangen ziehen sich ab und zu beim Versuch zu atmen zusammen. Die grauen Bartstoppeln an seinem Kinn gleichen Metallspänen, die sich nach dem Magnetfeld richten. Immer wieder beginnen sich seine trockenen, aufgeplatzten Lippen ohne ersichtlichen Sinn zu bewegen. Will er etwas sagen? Außer etwas trockener Puste kommt nichts heraus.
Am frühen Morgen merkt April, dass Tara eingenickt ist. Ihr Kopf liegt auf dem Bett. April nimmt eine Decke und legt sie vorsichtig über ihre Schwester. Dann hört sie eine Stimme.
»Lil?«
Sie kommt von dem alten Mann. Seine Augen sind noch immer geschlossen, aber sein Mund bewegt sich unentwegt. Er scheint wütend, seine Miene ist zerfurcht. Lil war die Abkürzung von Lilian, Dads verstorbener Ehefrau. April hat den Kosenamen seit Jahren nicht mehr gehört.
»Daddy? Ich bin’s, April«, flüstert sie und legt eine Hand auf seine Wange. Er zuckt zusammen, die Augen noch immer geschlossen. Sein Mund ist verzerrt. Die Stimme lallt durch den Nervenschaden, der eine Seite seines Gesichts lähmt.
»Lil, pfeif die Hunde rein! Da zieht ein Sturm auf – ein großer Sturm. Er kommt mal wieder aus Nordosten!«
»Daddy! Wach auf«, flüstert April leise. Ihr Herz krampft sich zusammen.
»Lil? Wo bist du?«
»Daddy?«
Schweigen.
»Daddy?«
Tara wacht auf, streckt sich und setzt sich gerade hin. Die gepresste Stimme ihres Vaters hat sie aus dem Schlaf gerissen. »Was ist los?«, fragt sie und reibt müde die Augen.
»Daddy?«
Das Schweigen hält an, aber der alte Mann atmet jetzt viel schneller.
»Da …«
Das Wort bleibt April im Mund stecken, als sie etwas Fürchterliches über das Gesicht ihres Vaters huschen sieht. Seine Augenlider öffnen sich leicht, und die weißen Augäpfel lugen darunter hervor. Plötzlich spricht er mit einer erschreckend deutlichen Stimme: »Der Teufel hat etwas vor mit uns.«