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In dem düsteren Schein der schwachen Lampe tauschen die beiden Schwestern ängstliche Blicke aus.

Die Stimme, die aus dem Körper von David Chalmers kommt, ist tief und rau. »Der Tag des Jüngsten Gerichts ist nah … Der Missetäter ist unter uns.«

Dann kehrt wieder Stille ein. Sein Kopf rollt zur Seite, als ob man die Nervenstränge zu seinem Gehirn plötzlich durchtrennt hätte.

Tara fühlt seinen Puls.

Sie schaut ihre Schwester an.

April mustert das Gesicht ihres Vaters. Seine Miene ist jetzt entspannt. Er sieht so aus, als ob er sich zuversichtlich einem ruhigen, tiefen und unendlich langen Schlaf hingeben würde.

Pünktlich bei Sonnenaufgang fängt Philip in seinem Schlafsack auf dem Boden des Wohnzimmers an, sich zu regen. Er setzt sich auf und massiert sein steifes Genick. Seine Gelenke sind von der Eiseskälte wie eingerostet. Es dauert ein Weilchen, ehe sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt haben und er sich orientiert. Er sieht Penny in Decken auf dem Sofa eingehüllt. Sie schläft tief. Sein Blick schweift zu Nick und Brian auf dem Boden, ebenfalls in Decken gewickelt. Auch sie schlafen noch. Die Erinnerung der Totenwache am Abend zuvor drängt sich ihm auf und der hoffnungslose Versuch, dem alten Mann zu helfen und gleichzeitig Aprils Befürchtungen zu zerstreuen.

Er blickt durch den Raum. In den Schatten des Flurs kann er die Tür zum Schlafzimmer ausmachen. Sie ist geschlossen.

Rasch klettert er aus dem Schlafsack und zieht sich hastig und leise an. Nachdem er die Hose übergestreift hat, fährt er in die Stiefel. Dann streicht er die Haare zurück und geht in die Küche, um sich den Mund auszuspülen. Plötzlich ertönt eine Stimme. Er folgt ihr zum Schlafzimmer und lauscht an der Tür. Es ist Tara, die vor sich hin murmelt.

Sie betet.

Philip klopft leise an.

Einen Augenblick später öffnet sich die Tür. April steht vor ihm. Ihre Augen sind so verquollen, dass man sie kaum erkennen kann. »Guten Morgen«, begrüßt sie ihn mit leiser Stimme.

»Wie geht es ihm?«

Ihre Lippen erbeben. »Er ist tot.«

»Wie bitte?«

»Er hat es hinter sich, Philip.«

Er starrt sie an. »O Gott …« Er schluckt. »Es tut mir leid, April.«

»Ja.«

Sie fängt zu weinen an. Nach einem kurzen peinlichen Augenblick – eine Welle widersprüchlicher Gefühle durchläuft Philip – nimmt er sie in die Arme. Er drückt sie an sich und streichelt ihr den Hinterkopf. Sie zittert in seiner Umarmung wie ein verlorenes Kind. Philip weiß nicht, was er sagen soll. Über ihre Schultern hinweg blickt er in das Schlafzimmer.

Tara Chalmers kniet am Totenbett und betet leise mit dem Kopf auf dem Betttuch vor sich hin. Sie hat eine Hand auf die kalten, knorrigen Finger ihres Vaters gelegt. Aus irgendeinem Grund fällt es Philip schwer, die Augen von Tara zu lösen, wie sie die blassen Finger des Toten streichelt.

»Sie lässt nicht mit sich reden, sondern will bei ihrem Daddy bleiben.« April sitzt am Küchentisch und trinkt eine Tasse schwachen, lauwarmen Tee, den sie auf einem Brennspirituskocher gekocht hat. Seitdem sie aus dem Totenzimmer gekommen ist, sind ihre Augen zum ersten Mal wieder klar. »Das arme Ding … Ich glaube, sie will ihn wieder lebendig beten.«

»Für so etwas muss man sich nicht schämen«, meint Philip. Er sitzt ihr gegenüber. Eine halb gegessene Schüssel Reis steht vor ihm. Er hat keinen Appetit.

»Hast du schon darüber nachgedacht, was ihr jetzt tun wollt?«, erkundigt sich Brian, der vor der Spüle steht und Wasser aus den Toiletten der oberen Stockwerke filtert.

Ab und zu kann man Nick und Penny hören, wie sie im Wohnzimmer Karten spielen.

April blickt Brian an. »Wie was tun?«

»Mit eurem Vater … Du weißt schon … Begraben und so?«

April seufzt. »Du hast das Ganze doch schon hinter dir, oder?«, fragt sie Philip.

Philip starrt auf den Reis vor sich. Er hat keine Ahnung, ob sie damit auf Bobby Marsh oder Sarah Blake anspielt. Er hat ihr sowohl von seinem Freund als auch von seiner Frau erzählt. »Ja, das habe ich.« Dann erwidert er ihren Blick und fügt hinzu: »Was auch immer ihr entscheidet, wir werden euch auf jeden Fall helfen.«

»Selbstverständlich werden wir ihn beerdigen.« Ihre Stimme klingt tonlos. Sie senkt die Augen und mustert den Boden. »Ich habe mir das nie so vorgestellt – nicht an so einem Ort wie diesem.«

»Das schaffen wir schon«, versichert ihr Philip. »Wir machen das so, wie es sich gehört.«

April hat den Blick noch immer zu Boden gesenkt, und eine Träne tropft in den Tee. »Ich hasse das alles.«

»Wir müssen zusammenhalten«, erklärt Philip ohne großen Enthusiasmus. Er sagt es nur, weil er nicht weiß, was er sonst sagen könnte.

April wischt sich das Gesicht ab. »Da gibt es ein Fleckchen Erde unter dem …«

Aus dem Flur dringt ein lautes Geräusch zu ihnen. Sie drehen sich um.

Ein gedämpfter Schlag gefolgt von einem Knall – das Umfallen von Möbeln.

Philip schnellt hoch, ehe die anderen verstanden haben, dass der Krach aus dem Schlafzimmer kommt.

Dreizehn

Philip reißt die Tür auf. Der Teppich steht in Flammen, und die rauchige Luft erzittert vor Gebrüll. In der Dunkelheit kann Philip eine Bewegung ausmachen. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er weiß, was er in dem flackernden Halbschatten vor Augen hat.

Die Kommode, die diese Geräusche verursacht hat, ist knapp neben Tara umgestürzt. Diese liegt auf dem Boden und versucht verzweifelt, sich von dem eisernen Griff toter Finger um ihr Bein zu befreien.

Toter Finger?

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt Philip, dass sich etwas durch das Fenster hereingeschlichen haben muss. Doch dann sieht er die verdorrte Gestalt von David Chalmers – mittlerweile völlig verwandelt – auf dem Boden. Er krallt sich an Taras Bein. Mit seinen gelben Fingernägeln kratzt er Tara die Haut auf. Das eingefallene Gesicht des alten Mannes ist bleigrau, und seine Augen sind mit milchig weißen Sprengseln überzogen. Aus seiner Kehle dringen hungrig klingende Grunzlaute.

Tara gelingt es, sich freizukämpfen und aufzurichten, ehe sie mit dem Rücken gegen die Wand prallt.

Plötzlich geschehen mehrere Dinge gleichzeitig: Zuerst fällt bei Philip der Groschen, was hier vor sich geht. Außerdem merkt er, dass er seine Pisole in der Küche vergessen hat und dass ihm die Zeit davonläuft, die Gefahr zu bannen.

Die Tatsache, dass es den netten alten Mandolinenspieler nicht mehr gibt, sondern dass dieses Ding, diese Masse toten Gewebes, einfach aufsteht, hungrig knurrt und nach seiner Tochter schnappt, erschüttert Philip zutiefst. Diese Kreatur ist eine Bedrohung. Schlimmer noch als die Flammen, die auf dem Teppich lodern, schlimmer als der Rauch, der bereits einen undurchdringlichen Nebel bildet, ist die Tatsache, dass eine solche Abscheulichkeit mitten unter ihnen weilt – mitten in ihrem Zufluchtsort.

Es bringt sie alle in Gefahr.

Ehe Philip auch nur eine Hand heben kann, stoßen die anderen zu ihm und drängen sich unter dem Türrahmen zusammen. April stößt einen schmerzerfüllten Schrei aus. Es ist kein Kreischen, sondern Ausdruck ihrer Qual und Pein – wie ein Tier, das angeschossen wurde. Sie will sich ins Schlafzimmer drängen, aber Brian hält sie zurück. April windet sich verzweifelt und versucht, seinem Griff zu entkommen.

All das passiert innerhalb weniger Sekunden. In diesem Moment erspäht Philip den Baseballschläger.

In der Aufregung des Abends zuvor ließ April den von Hank Aaron signierten Metallschläger in einer Ecke neben dem vergitterten Fenster stehen, und so ist er jetzt keine vier Meter von Philip entfernt. Die lodernden Flammen spiegeln sich in seinem glänzenden Metall wider. Philip hat keine Zeit, seinen nächsten Schritt zu überdenken oder einen Plan zu schmieden. Jetzt muss er sich nur noch auf den Baseballschläger stürzen.