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Philip ist zurück in seiner Kindheit in Waynesboro – zurück in dem heruntergekommenen kleinen Bungalow an der Farrel Street, im Kinderzimmer, das er sich mit Brian teilte. Aber Philip ist kein Kind mehr. Doch nicht nur er hat die Zeitreise zurück in die siebziger Jahre unternommen – die Plage ist ihm gefolgt. Der Traum wirkt erschreckend lebendig und echt. Die Tapete mit den Maiglöckchen, die Iron-Maiden-Poster und der zerkratzte Schreibtisch. Auch Brian befindet sich irgendwo im Haus. Aber anstatt ihn zu sehen, hört Philip nur seine Schreie. Penny ist auch irgendwo und verlangt weinend nach ihrem Vater. Philip eilt auf den Flur, der einem endlosen Labyrinth gleicht. Putz fällt von den Wänden. Eine Horde Zombies wartet draußen, tobt und zetert. Sie wollen herein. Die zugenagelten Fenster sind am Vibrieren. Philip hat einen Hammer und versucht, sie erneut zu sichern. Er klopft weitere Nägel durch die Bretter und in die Holzwand, aber der Hammerkopf fällt vom Stil. Ein Krachen – etwas knarzt. Philip sieht, wie eine Tür langsam dem Druck von außen nachgibt. Er sprintet hin, aber der Türknauf fällt ab, sobald er die Hand danach ausstreckt. Er durchsucht Schubladen und Kommoden nach Waffen. Das Furnier pellt sich von den Holzmöbeln, während der Putz von der Decke rieselt. Die Wände stürzen ein, das Linoleum wölbt sich, und die Fenster fallen aus ihren Rahmen. Philip hört ständig Pennys verzweifeltes Rufen, er hört ihre Schreie, wie sie nach ihm verlangt: »DADDY!«

Knochige Arme schießen durch die kaputten Fenster, und schwarze, gekrümmte Finger greifen nach ihm.

»DADDY!«

Philip entringt ein lautloser Schrei, als der Traum in tausend Scherben zerbirst. Er wacht auf.

Vierzehn

Philip schreckt keuchend auf. Ruckartig setzt er sich hoch und blinzelt ins blassen Morgenlicht. Irgendjemand steht am anderen Ende des Bettes. Nein. Es sind zwei Personen. Jetzt sieht er sie – eine ist groß, die andere eher klein.

»Guten Morgen«, begrüßt ihn April, deren Hand auf Pennys Schulter ruht.

»Verdammt.« Philip lehnt sich ans Kopfteil des Bettes. Er trägt ein Unterhemd und eine Trainingshose. »Mann, wie spät ist es denn?«

»Noch nicht ganz Mittag.«

»Heiliger Strohsack«, murmelt er und versucht, sich zu orientieren. Seine sehnige Gestalt ist von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Sein Nacken tut weh, und sein Mund schmeckt abgestanden. »Unglaublich.«

»Wir müssen dir etwas zeigen, Daddy«, verkündet Penny, die Augen vor Spannung aufgerissen. Der Anblick seiner Tochter, die so fröhlich vor ihm steht, löst eine wohltuende Welle der Erleichterung in ihm aus und verdrängt die letzten Fetzen seines fiebrigen Traums.

Er steht auf und zieht sich an. »Bin gleich so weit. Gebt mir einen Augenblick, damit ich mich schminken kann«, sagt er mit heiserer Whiskey-Stimme und fährt sich mit den Fingern durch die ungewaschenen Haare.

Dann begleitet er die beiden aufs Dach hinauf. Als sie die Feuertür öffnen und ihnen die kühle Luft entgegenschlägt, kann Philip das grelle Licht kaum ertragen. Obwohl es bewölkt ist, bekommt Philip Kopfschmerzen, und das Tageslicht lässt seinen Kopf fast explodieren. Er blinzelt in den Himmel hinauf und entdeckt die bedrohlichen Gewitterwolken, die von Norden her immer näher rollen. »Sieht nach Regen aus.«

»Das ist gut«, meint April und zwinkert Penny zu. »Zeig ihm warum, Kleine.«

Das Mädchen ergreift die Hand seines Vaters und zerrt ihn quer über das Dach. »Schau mal, Daddy. April und ich haben einen Garten gemacht, um Gemüse anzubauen.«

Sie zeigt ihm das kleine, behelfsmäßige Gärtchen mitten auf dem Dach. Es dauert einen Augenblick, ehe Philip versteht, dass er vor vier zusammengebundenen Schubkarren steht, denen die Räder fehlen. In jeder Wanne liegt eine etwa fünfzehn Zentimeter dicke Schicht Erde, aus der bereits einige Triebe ragen. »Das ist ja prima«, lobt er Penny und drückt ihre Hand. Dann wendet er sich an April. »Das ist wirklich prima.«

»War Pennys Idee«, erwidert April, und der Stolz spiegelt sich in ihren Augen wider. Sie deutet auf eine Reihe Eimer. »Außerdem sammeln wir jetzt Regenwasser.«

Philip saugt April Chalmers hübsches, etwas zerschrammtes Gesicht, ihre meerblauen Augen und die aschblonden Haare, die offen über die Schultern ihres mitgenommenen Wollpullovers mit Zopfmuster hängen, förmlich in sich auf. Er kann sich nicht von ihr abwenden. Selbst als Penny anfängt zu erzählen, was sie alles anbauen möchte – unter anderem Zuckerwattepflanzen und Kaugummibüsche –, kann Philip nur an eines denken: So wie April sich zu Penny gekniet und ihr konzentriert zugehört, wie sie die Hand auf Pennys Rücken gelegt hat, der liebevolle Gesichtsausdruck, die lockere Art und Weise, wie die beiden miteinander umgehen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit – all das signalisiert etwas Tieferes als lediglich den gemeinsamen Wunsch zu überleben.

Philip traut sich kaum, das Wort zu formulieren, und trotzdem überwältigt es ihn auf dem windgepeitschten Dach: Familie.

»Oh! Entschuldigung!«

Die schroffe Stimme kommt von der Feuertür hinter ihnen auf der anderen Seite des Dachs. Philip dreht sich um und entdeckt Tara in einem ihrer schmuddeligen hawaiianischen Fummel. Finster blickend steht sie da und hält einen Eimer in der Hand. Ihr Gesicht mit den riesigen Wangen und den geschminkten Augen sieht noch düsterer und verdrießlicher als gewöhnlich aus. »Wäre es zu viel verlangt, wenn sich jemand beizeiten dazu herablassen könnte, mir zu helfen?«

April steht auf und dreht sich um. »Ich habe doch gesagt, dass ich gleich da bin.«

Offensichtlich hat Tara Wasser aus den Toiletten geholt. Philip überlegt, ob er sich einmischen soll, entscheidet sich aber dagegen.

»Das war vor einer halben Stunde«, knurrt Tara. »In der Zwischenzeit habe ich einen Eimer nach dem anderen durch die Gegend geschleppt, während ihr euch hier oben vergnügt und Sesamstraße spielt.«

»Tara, bitte … Reg dich ab«, stöhnt April. »Warte noch einen Augenblick, und ich bin sofort bei dir.«

»Wunderbar! Wie auch immer!« Eingeschnappt macht Tara eine Kehrtwende und verschwindet genervt im Haus.

April senkt den Blick. »Es tut mir leid, aber sie ist noch nicht so weit. Sie muss noch immer daran denken … Du weißt schon …«

Aprils Miene lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es viel zu lange dauern würde, all die Dinge aufzulisten, die ihrer Schwester gerade auf die Nerven gehen. Philip ist nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß, dass es kompliziert ist und Eifersucht und Rivalität zwischen den beiden ebenfalls mit im Spiel sind. Vielleicht wird das Ganze ja noch verschlimmert, da sich April während ihrer Trauer um ihren Vater nicht ausschließlich um Tara kümmert.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, meint Philip. »Aber da gibt es etwas, das ich dir sagen möchte.«

»Ja?«

»Ich wollte dich eigentlich nur wissen lassen, dass ich unheimlich dankbar bin, wie du dich um meine Tochter kümmerst.«

April lächelt. »Sie ist einfach großartig.«

»Ja … Das ist sie … Und du bist auch nicht so schlecht.«

»Oh, vielen Dank!« Sie lehnt sich zu ihm und gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der seine Wirkung nicht verfehlt. »Und jetzt muss ich wirklich hinunter, sonst erschießt mich meine Schwester noch.«

April verlässt die beiden, während Philip wie vom Donner gerührt zurückbleibt.

Als Kuss war es nichts Besonderes. Philips verstorbene Frau Sarah war eine ausgezeichnete Küsserin. Verdammt – seit Sarahs Tod hat Philip die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen, die sich mehr ins Zeug legten. Auch diese Frauen haben Gefühle, und Philip fragte für gewöhnlich immer zu Anfang, ob es ihnen etwas ausmache, wenn er sie ab und zu küssen würde – wenn auch nur, um so zu tun, als ob Liebe mit im Spiel wäre. Aber dieses Küsschen von April war eher wie ein Hors d’œuvre, ein Hinweis darauf, was noch alles geschehen könnte. Philip versteht den Kuss nicht als ein Spiel – genauso wenig, wie er platonisch gemeint war. Nein, dieser Kuss befindet sich in jenem unwiderstehlichen Zwischenstadium zwischen zwei Polen. So wie Philip es sieht, war es ein Anklopfen. Sie hat an die Tür geklopft, um zu sehen, ob jemand zu Hause ist.