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Nachmittags wartet Philip vergebens auf den Regen, er will einfach nicht kommen. Es ist bereits Mitte Oktober – Philip hat keine Ahnung, welcher Tag –, und jeder erwartet die üblichen Regengüsse, die Zentral-Georgia normalerweise um diese Zeit heimsuchen. Aber irgendetwas hält sie zurück. Die Temperaturen fallen, und die Luftfeuchtigkeit steigt, aber der Regen bleibt noch immer fern. Vielleicht hat die Dürre ja etwas mit der Plage zu tun. Aus welchem Grund auch immer – Tatsache ist, dass der unruhige Himmel mit seinen dunklen Gewitterwolken die merkwürdig unerklärliche Anspannung widerspiegelt, die sich langsam immer stärker in Philip aufbaut.

Am späten Nachmittag fragt er April, ob sie ihn nach unten auf die Straße begleiten will.

Sie zu überreden stellt sich als ein hartes Stück Arbeit heraus, obwohl die Anzahl der Zombies seit dem letzten Mal, als sie sich hinaustrauten, drastisch zurückgegangen ist. Er gibt vor, sie für einen Aufklärungseinsatz zu brauchen, um Baumärkte wie Home Depot oder Lowe’s nach Generatoren zu durchforsten. Es wird immer kälter, insbesondere nachts, und es wird nicht mehr lange dauern, bis Elektrizität überlebenswichtig für sie wird. Schließlich überredet er sie, indem er ihr sagt, dass er jemand Ortskundigen brauche.

Er will ihr zudem die Sicherheitszonen zeigen, die Nick ausgemacht und markiert hat. Nick bietet sich an, ebenfalls mitzukommen, aber Philip lehnt ab. Er versichert ihm, dass er besser hier aufgehoben sei, wo er sich zusammen mit Brian um die anderen kümmern könne.

April lässt sich schließlich überreden. Ihr wird aber bei dem Anblick der wackelnden Brücke Marke Eigenbau etwas mulmig. Was ist, wenn es tatsächlich zu regnen anfängt und sie rutschig wird? Philip erklärt ihr, dass es ganz einfach sei, insbesondere für jemand so Leichten, wie sie es sei.

Sie ziehen sich also Mäntel und feste Schuhe an und bewaffnen sich. April nimmt eins der Marlins. Schließlich sind die beiden bereit, die Sicherheit der Wohnung zu verlassen. Tara ist sauer und empört über ihre »dämliche, gefährliche, kindische und grenzdebile Zeitverschwendung«. Philip und April ignorieren ihre Schimpftirade höflich.

»Nicht hinunterschauen!«

Philip ist schon zur Hälfte über die Laufplanke gekrochen. April folgt ihm in einem Abstand von drei Metern und hält sich so fest, wie sie nur kann. Philip wirft einen raschen Blick über die Schulter und lächelt. Das Mädchen hat echt Mumm in den Knochen!

»Kein Problem«, ruft sie zurück und arbeitet sich mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Muskeln weiter vor. Der Wind weht ihr durch die Haare. Zehn Meter unter ihr starren zwei Untote dumpf durch die Gegend und suchen nach dem Ursprung der Stimmen.

»Gleich haben wir es«, ermutigt Philip sie. Er erreicht die andere Seite.

Sie hat noch sechs Meter vor sich, ehe er ihr hilft, auf den Vorsprung der Feuerleiter zu steigen. Das gusseiserne Gerüst ächzt unter dem Gewicht.

Dann sind sie bei dem offenen Fenster und klettern in das Gebäude der ehemaligen Steuerberater Stevenson & Sons. Die Korridore sind dunkler und kälter als beim letzten Mal, als Philip hier war. Es ist, als ob der drohende Sturm sämtliches Licht verschluckt hätte.

Sie eilen die leeren Flure entlang. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Philip April, als sie über Müll und zerknitterte Steuererklärungen steigen. »Hier sind wir sicher. Zumindest so sicher, wie man es heutzutage überhaupt noch sein kann.«

»Das ist nicht besonders beruhigend«, gibt sie zurück, die Waffe gezückt und den Zeigefinger am Hahn.

Sie trägt ein zerfetztes Fleecehemd und Jeans und hat wie immer Ärmel und Hosenbeine mit Klebeband zugeschnürt. Sie ist die Einzige, die sich diese Mühe macht. Philip fragte sie einmal, was sie damit eigentlich bezwecke. Sie erklärte ihm, dass sie einmal ein TV-Programm gesehen habe, in dem ein Trapper – immerhin ein gutes Vorbild – dieses Verkleben als gute Vorsichtsmaßnahme gegen Verletzungen bezeichnet hatte.

Sie durchqueren die Empfangshalle und gelangen zur Treppe und den Verkaufsautomaten.

»Schau dir das an«, sagt Philip und steigt die Treppe zur unmarkierten Metalltür empor. Er hält inne, ehe er sie öffnet. »Kennst du Kapitän Nemo?«

»Wen?«

»Aus einem alten Film: 20.000 Meilen unter dem Meer. Der alte, verrückte Kapitän spielt Orgel in einem U-Boot, während ein Riesenkrake an den großen Panoramafenstern vorüberschwimmt.«

»Nie gesehen.«

Philip lächelt sie an. »Nun, das wird sich gleich ändern.«

April Chalmers ist es inzwischen gewöhnt, dass ihr nichts außer brutalste Gewalt die Sprache verschlägt. Sonst nichts. Mit dieser Erwartung folgt sie Philip durch die Metalltür auf die Fußbrücke hinaus. Auf der Schwelle hält sie inne.

Eine solche Fußgängerbrücke ist nichts Neues für sie, vielleicht war sie sogar schon einmal hier gewesen. Aber heute Abend ist es mit den letzten Lichtstrahlen und dem großen, überdachten Raum zehn Meter über der Kreuzung etwas ganz Besonderes. Durch das gläserne Dach sind feine Blitze in der Ferne zu erkennen, welche die Wolken erhellen. Die transparenten Wände geben den Blick auf die länger werdenden Schatten der Stadt frei, die vor Zombies nur so wimmelt. Ganz Atlanta gleicht einem riesigen Brettspiel, auf dem allerdings eine chaotische Unordnung herrscht.

»Jetzt verstehe ich«, sagt sie schließlich. Es ist eher ein Murmeln, so beschäftigt ist sie damit, alles in sich aufzunehmen. Außerdem spürt sie eine merkwürdige Mischung aus Emotionen: Schwindelgefühl, Angst und Aufregung.

Philip stellt sich in die Mitte der Brücke und wirft seine Tasche zu Boden, ehe er nach Süden nickt. »Ich möchte dir noch etwas zeigen«, erklärt er. »Komm bitte mal hierher.«

Sie tritt zu ihm und lehnt ihr Gewehr an das Plexiglas. Die Tasche stellt sie daneben.

Philip deutet auf die roten Sterne, mit denen Nick Parsons die leer stehenden Autos, Busse und Eingänge markiert hat. Dann erklärt er die Idee mit den sogenannten Sicherheitszonen und lobt Nick für seine Umsicht und Cleverness. »Ich glaube, dass er das richtig gut macht.«

April stimmt Philip zu. »Wir können die Verstecke gut gebrauchen, um den Generator zu finden, von dem jeder redet.«

»Das denke ich auch.«

»Nick ist ein netter Kerl.«

»Das ist er.«

Dunkelheit legt sich über die Stadt, und in den blauen Schatten der Brücke erscheint Philips markantes Gesicht noch rauer und schroffer als gewöhnlich. Mit seinem schwarzen Fu-Manchu-Schnurrbart und den dunklen, in Lachfalten eingenisteten Augen erinnert er April an eine Mischung aus einem jungen Clint Eastwood und … An wen noch? An ihren Vater als jungen Mann? Ist das der Grund, warum sie immer wieder diese Anziehung zu diesem großen, schlaksigen Landei verspürt? Geht es ihr denn so schlecht, dass allein die Ähnlichkeit zu ihrem Vater reicht, einen Mann attraktiv zu finden? Oder hat diese verrückte Schwärmerei mehr mit dem Stress zu tun, in einer Welt zu leben, die dem Untergang geweiht ist? Um Himmels willen, das ist der Mann, der ihrem Vater den Schädel gespalten hat! Aber das war nicht mehr David Chalmers. Wie heißt es so schön? Die Seele ihres Vaters war schon längst zum Himmel gestiegen. Sie war bereits im Jenseits, als er aus dem Bett kletterte, um seine älteste Tochter zu beißen.