Als sie wieder vor der Wohnungstür stehen – beide bis auf die Haut durchnässt, erschöpft und benommen –, ist Philip fast guten Mutes.
Brian ist zusammen mit Penny in Philips Zimmer und bringt sie gerade ins Bett, während Nick im Wohnzimmer an seiner Karte der Sicherheitszonen arbeitet. »He, wie war es?«, fragt er und blickt von seinen Papieren auf. »Ihr seht ja wie begossene Pudel aus. Habt ihr einen Baumarkt oder so etwas Ähnliches gefunden?«
»Nein, leider nicht«, antwortet Philip und geht zu seinem Zimmer. Davor bleibt er stehen, um sich die Schuhe auszuziehen.
April sagt kein Wort und meidet Nicks fragenden Blick, als sie in den Flur tritt.
»Schaut euch beide an«, meint Tara, die mit grimmiger Miene aus der Küche kommt, eine Zigarette im Mundwinkel. »Genau, wie ich es mir gedacht habe – ein total fruchtloses Unterfangen!«
Sie steht da, die Hände in die Hüften gestemmt. April verschwindet in ihrem Zimmer am Ende des Flurs, ohne auf Taras Worte zu reagieren. Tara wirft Philip einen fragenden Blick zu und geht dann ihrer Schwester hinterher.
»Ich lege mich schlafen«, verkündet Philip halb an Nick und halb an sich selber gerichtet und geht in sein Zimmer.
Am nächsten Morgen wacht Philip vor Sonnenaufgang auf. Der Regen prasselt noch immer gegen die Scheiben, und sein Zimmer ist kalt und dunkel. Es stinkt nach Schimmel. Er setzt sich auf die Bettkante und starrt unendlich lange auf Penny, die zusammengerollt in ihrem Bett schlummert. Nicht ganz klare Erinnerungen an einen Traum hallen in seinem benebelten Kopf nach – genauso wie die erschreckende Erkenntnis, dass er keine Ahnung hat, wann die Albträume angefangen und der Vorfall mit April am vorigen Abend aufgehört haben.
Wenn er doch nur alles geträumt hätte, was gestern auf der Fußbrücke vorgefallen ist! Aber die gnadenlose Gewissheit der Realität holt ihn in dem dunklen Zimmer in Gestalt von ein paar Erinnerungen ein. Es ist, als ob er jemand anderem bei der Tat zuschauen würde. Philip lässt den Kopf hängen und versucht, die Schuldgefühle und die Angst zu verdrängen.
Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar und redet sich ein, dass er eigentlich voller Hoffnung sein sollte. April und er können das schon verarbeiten, einen Weg finden, es hinter sich zu lassen. Er muss sich entschuldigen und alles wiedergutmachen.
Er betrachtet Penny, wie sie schläft.
In den zweieinhalb Wochen, die Philip und seine Bande jetzt schon bei den Chalmers verbracht haben, ist Penny aus ihrem Schneckenhaus gekommen. Zu Anfang waren es noch kleine Dinge, die ihm auffielen: Penny freute sich immer darauf, das schreckliche Essen zu kochen. Ihre Miene hellte sich auf, wenn April das Zimmer betrat. Mit jedem Tag wurde das Kind gesprächiger und offener, es hat sich sogar an Erlebnisse vor der Plage erinnert, ein paar Worte über das Wetter verloren und Fragen zur »Krankheit« gestellt: »Können Tiere angesteckt werden? Hört es irgendwann wieder auf? Ist Gott wütend auf uns?«
Philips Brust schmerzt, als er das schlafende Kind betrachtet. Es muss einen Weg geben, seiner Tochter ein gutes Leben zu bieten, eine Familie zu gründen, ein Heim einzurichten – sogar inmitten dieses Albtraums … Es muss doch einfach einen Weg geben.
Für einen kurzen Augenblick erträumt sich Philip eine kleine Insel mit einer Hütte und Kokospalmen. Die Plage ist eine Million Lichtjahre entfernt. Er stellt sich April und Penny vor, wie sie vor dem Gemüsegarten zusammen mit der Schaukel spielen. Er sitzt auf der Veranda, braungebrannt und gesund, und schaut den beiden glücklich zu. In dieser Vision führt er ein zufriedenes Leben.
Er steht auf und geht zu Penny hinüber, kniet sich hin und legt eine Hand auf ihre daunenweichen Haare. Sie muss sich endlich einmal duschen, denn ihre Haare sind verfilzt und fettig, und ihr kindlicher Schweiß steigt ihm in die Nase. Der Geruch berührt ihn im Tiefsten seiner Seele. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Er hat noch nie jemanden mehr geliebt als sein Kind. Selbst Sarah, die er vergöttert hat, belegte den zweiten Platz. Seine Liebe für Sarah – wie bei den meisten Ehepaaren – war kompliziert, an diverse Bedingungen geknüpft und unterlag Schwankungen. Aber als er vor siebeneinhalb Jahren das erste Mal sein kleines Baby sah, als es noch ganz blutig war, verstand er, was wahre Liebe heißt.
Es heißt, Angst zu haben. Es heißt, für den Rest des Lebens verletzlich zu sein.
Irgendetwas reißt ihn aus den Gedanken. Seine Tür steht offen. Er erinnert sich daran, dass er sie gestern Abend geschlossen hat. Das weiß er genau. Jetzt aber steht sie zwanzig Zentimeter offen.
Zuerst achtet er kaum darauf. Er macht sich keine Gedanken. Schließlich ist es möglich, dass er sie aus Versehen nicht richtig zumachte, sodass sie von allein wieder aufging. Oder vielleicht stand er in der Nacht zum Pinkeln auf und vergaß, sie wieder zu schließen. Oder Penny musste mal und ließ sie dann offen. Verdammt, vielleicht ist er ja sogar ein Schlafwandler und weiß es nicht! Doch dann, als er sich wieder umdreht, um seiner Tochter erneut beim Schlafen zuzusehen, bemerkt er noch etwas.
Es fehlen einige Dinge aus seinem Zimmer.
Philips Herz beginnt zu pochen. Sein Rucksack – der Rucksack, den er vor zwei Wochen dabeihatte, als sie den Chalmers über den Weg liefen – stand immer an der Wand. Aber jetzt ist er nicht mehr da. Und auch seine Pistole ist verschwunden. Er legte die Ruger samt dem letzten Magazin auf den Nachttisch. Aber auch die Munition ist wie vom Erdboden verschluckt.
Philip springt auf.
Er lässt einen Blick durch das Zimmer schweifen. Das trübe Morgenlicht reicht, um den Raum zu erhellen und Schatten des Regens draußen vor dem Fenster an die Wand zu werfen. Seine Stiefel stehen auch nicht mehr da, wo er sie hingestellt hat. Die waren hundertprozentig unter dem Fenster! Wer zum Teufel sollte ihm seine Stiefel wegnehmen? Er ermahnt sich, Ruhe zu bewahren. Es muss eine einfache Erklärung geben. Überhaupt gibt es keinen Grund, sich aufzuregen. Doch dass seine Pistole verschwunden ist, macht ihm Sorgen. Er entschließt sich, nichts zu überstürzen und die Sache Schritt für Schritt anzugehen.
Leise, damit Penny nicht aufwacht, schleicht er durchs Zimmer und schlüpft aus der Tür in den Gang.
Die Wohnung ist still. Brian schläft im Wohnzimmer auf dem ausziehbaren Bett. Philip geht in die Küche und macht den Campingkocher an, um sich aus dem Regenwasser in einem der Eimer einen Kaffee zu machen. Er wäscht sich oberflächlich das Gesicht und versucht, Ruhe zu bewahren und erst einmal tief Luft zu holen.
Mit dem Kaffee in der Hand untersucht er den Rest der Wohnung. Er geht den Gang entlang zu Aprils Schlafzimmer.
Ihre Tür steht offen.
Er späht hinein und sieht, dass das Zimmer leer ist. Sein Puls schlägt schneller.
»Sie ist nicht da«, sagt jemand hinter ihm.
Er dreht sich um. Tara Chalmers steht direkt vor ihm. Sie hat seine Ruger in der Hand und richtet den Lauf auf Philips Kopf.