Nick zuckt mit den Achseln. »Na ja. Ich habe laut nachgedacht …«
»Nun pass mal auf, mein Freund«, sagt Philip. »Hör mir mit deinen verdammten Thesen auf.«
»Ich wollte doch nur …«
»Die verschwinden nicht einfach so, Nicky. Schreib dir das hinter die Ohren. Ich will nicht, dass meine Tochter deine Thesen hört. Die ernähren sich von Lebenden, und sie vermehren sich, und wenn sie verrotten, wird es neue Beißer geben, die an ihre Stelle treten. Wenn wir etwas von der Sache mit dem alten Mann Chalmers gelernt haben, dann braucht man nicht erst gebissen zu werden, um so zu enden. Das heißt, dass das Ende der Welt gekommen ist. Also wach auf, Junge. Es ist später, als du denkst.«
Nick senkt den Blick. »Ist gut, Mann … Verstehe … Du kannst dich wieder abregen, Philly.«
Mittlerweile hat es Brian geschafft, Pennys Mantel zuzumachen. Er nimmt sie an der Hand, und die beiden gehen zu Philip und Nick hinüber. »Wir sind so weit.«
»Wie spät haben wir es?«, fragt Philip seinen Bruder, der in seiner zu großen Harley-Jacke etwas lächerlich aussieht.
Er blickt auf die Uhr. »Kurz vor zwölf.«
»Gut … Das heißt, wir haben sechs, vielleicht sieben Stunden Tageslicht, um diese verdammte Höllenstadt endlich hinter uns zu lassen.«
»Habt ihr euch eure Motorräder schon ausgesucht?«, fragt Brian.
Philip schenkt ihm ein herablassendes Lächeln.
Sie suchen sich zwei der größten Motorräder im ganzen Laden aus: zwei Harley-Davidson Electra Glides, eine in Graublau und die andere in Mitternachtsschwarz. Sie sind nicht nur groß und schwer, sondern strotzen vor Zugkraft, haben breite Sitze, bieten sogar etwas Stauraum und vor allem – es sind verdammte Harleys! Philip will Penny mitnehmen, sodass Brian bei Nick aufsteigt. Die Tanks sind zwar leer, aber in der Werkstatt stehen genügend Motorräder mit Sprit herum. Sie zapfen das Benzin ab und füllen die Harleys bis obenhin auf.
Es dauert eine Viertelstunde, bis die Motorräder startbereit sind, sie sich passende Helme ausgesucht und ihre Taschen festgezurrt haben. Mittlerweile geht es auf der Straße vor dem Motorradladen geradezu hektisch mit Untoten zu. Hunderte von Beißern drängeln sich auf der Kreuzung und wandern ziellos im grauen Nieselregen umher. Manche knallen gegen das Sicherheitsglas und ächzen vor sich hin, während schwarzer Speichel aus ihren Mündern fließt. Ihre zinngrauen Augen starren gierig auf die beweglichen Schatten hinter dem Sicherheitsglas des Champion Cycle Centers.
»Viel los da draußen«, murmelt Nick mehr zu sich selbst, als er das gewichtige Zweirad zum Seitenausgang schiebt, der durch eine Tür auf den Parkplatz führt. Er stülpt sich den Helm über und zieht ihn fest.
»Wir müssen sie überraschen«, meint Philip und rollt seine schwarze Harley ebenfalls zur Tür. Sein Magen knurrt vor Hunger und Nervosität, als er sich den Helm aufsetzt. Das letzte Mal, dass sie etwas zwischen die Zähne bekamen, ist inzwischen fast vierundzwanzig Stunden her. Philip steckt den Stahlstab zwischen Lenker und Frontscheibe, damit er jederzeit griffbereit ist. »Los, Schatz. Auf geht’s!«, ruft er Penny zu, die schüchtern mit ihrem Kinderhelm ein wenig abseits steht. »Wir machen eine Spritztour – okay?«
Brian hilft der Kleinen auf den Sozius, einen gepolsterten Sitz über dem schwarz lackierten Staufach, in dem er sogar einen Sicherheitsgurt findet. Er schnallt ihn um ihre schmale Taille und spricht ihr ermutigend zu. »Keine Sorge, Kleine! Das wird schon alles.«
»Zuerst geht es Richtung Süden, und dann biegen wir nach Westen ab«, meint er und steigt auf. »Nicky, fahr mir einfach hinterher.«
»Alles klar.«
»Alle Mann bereit?«
Brian tritt zur Tür und nickt nervös. »Alles klar.«
Philip startet seine Harley. Der Motor heult auf und füllt den Ausstellungsraum mit Abgasen. Nick steigt ebenfalls auf den Kickstarter, und zusammen singen die beiden Motoren eine laute Arie in dissonantem Einklang, die den Raum erfüllt. Philip dreht am Gas und gibt Brian ein Zeichen.
Brian zieht den Riegel heraus und reißt die Tür auf. Der Wind fegt ihnen um die Ohren. Philip legt den ersten Gang ein und schießt ins Freie.
Brian springt auf Nicks Sozius, und die beiden machen sich ebenfalls auf den Weg.
»MIST! VERDAMMT! PHILIP! PHILIP! SCHAU NACH UNTEN! SCHAU VERDAMMT NOCH MAL NACH UNTEN! NACH UNTEN!«
Brians hektisches Gebrüll wird von seinem Helm gedämpft und vom lauten Motorengeräusch völlig übertönt.
Es passiert Sekunden, nachdem sie durch eine Horde Beißer auf der Kreuzung gerast sind. Die Leichen wurden vom Vorbau der Harleys in die Luft geschleudert. Nach einer Linkskurve sausen die Männer auf der Water Street Richtung Süden und lassen die Scharen Untoter hinter sich, als Brian vor sich auf die Straße blickt und eine verstümmelte Leiche sieht, die von Philips Harley mitgeschleppt wird.
Die untere Hälfte der Kreatur gibt es nicht mehr. Ihre Eingeweide wehen im Wind wie flatternde Kabel, aber der Oberkörper funktioniert noch, und der vermodernde Kopf ist auch noch ganz. Mit den beiden toten Armen hält sich das Ding an der hinteren Stoßstange der Harley fest und beginnt, sich langsam aber sicher hochzuarbeiten.
Weder Philip noch Penny merken etwas.
»HOL AUF, NICK! FAHR NEBEN IHM HER!«, brüllt Brian, die Arme um den Fahrer geschlungen.
»VERSUCH ICH DOCH!«
Sie schießen die menschenleere, nasse Nebenstraße entlang, und die Motorräder drohen, auf dem Wasser ins Schlingern zu geraten. Endlich bemerkt Penny die Kreatur, die sich verkrampft festhält und immer höher klettert. Penny fängt an zu schreien und gestikuliert wild wie eine Schauspielerin in einem Stummfilm.
Nick dreht am Gas und holt Philip allmählich ein.
»HOL DEN BASEBALLSCHLÄGER RAUS!«, brüllt er über den Motorenlärm hinweg, und Brian versucht, den Schläger aus ihrem Gepäck zu ziehen.
Jetzt hat auch Philip bemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hat. Nick hat weiter aufgeholt. Er ist keine zwei Meter mehr vom Rücklicht der schwarzen Harley entfernt. Aber ehe Brian etwas mit dem Baseballschläger ausrichten kann, sieht er, wie Philip den Stahlstab aus seiner behelfsmäßigen Scheide zwischen Lenker und Bike zieht.
Mit einer raschen, brutalen Bewegung, welche die Harley ins Schwanken bringt, dreht sich Philip, den Lenker in der linken Hand, um und schlägt den Stahl mitten in den Rachen der untoten Kreatur.
Der aufgespießte Kopf des Monsters hält, nur wenige Zentimeter vor Penny, inne. Doch der Stahlstab ist nun zwischen den glänzenden Auspuffrohren der Harley eingeklemmt, und die Kreatur hängt noch daran. Philip zieht das rechte Bein an und tritt mit der Wucht eines Rammbocks auf den halben Leichnam und den Stahlstab, sodass beides lose kommt. Das Wesen verliert den Halt und fällt auf die Straße. Nick muss ein wildes Ausweichmanöver hinlegen, damit es sich nicht stattdessen an seiner Harley festhält.
Philip gibt Gas und fährt weiter Richtung Süden ohne einen Blick zurück.
Und so geht’s weiter im Zickzackkurs durch das südliche Atlanta. Sie wollen immer auf Nebenstraßen bleiben und nicht über große Kreuzungen fahren. Nach eineinhalb Kilometern stoßen sie jedoch auf eine Hauptverkehrsstraße mit wenigen Wracks und einer überschaubaren Anzahl von Zombies. Also biegt Philip dort ab. Immerhin haben sie bereits fünf Kilometer zurückgelegt.
Der Horizont ist unverbaut, und im Westen hellt es sogar ein wenig auf.
Sie haben genug Benzin für gute sechshundert Kilometer, ehe sie die Bikes erneut auffüllen müssen.
Was sie in der ländlichen, grauen Landschaft erwartet mag, kann nur besser sein als das, was sie in Atlanta hinter sich gelassen haben.
Es muss besser sein.
TEIL 3
Chaostheorie