Brian registriert diesen Überfluss alten Geldes allerdings überhaupt nicht, als sie sich langsam einer Seitentür zwischen Garage und Villa nähern.
Philip bremst und wirbelt eine große Staubwolke auf. Er schaltet den Motor ab und mustert das lachsfarbene Ziegelgebäude. Nick kommt neben ihm zum Stehen und klappt den Ständer herunter. Niemand sagt ein Wort. Philip steigt ab und wendet sich an Penny. »Warte hier auf mich, Liebling.«
Nick und Brian steigen ebenfalls ab und strecken sich.
»Hast du den Baseballschläger zur Hand?«, fragt Philip, ohne die beiden anzuschauen.
»Glaubst du, dass da noch jemand ist?«, will Nick wissen.
»Man weiß nie.«
Philip wartet, bis Nick den Baseballschläger geholt hat, der zwischen Rahmen und Staufach seiner Maschine klemmt. Er reicht ihn Philip.
»Ihr bleibt bei Penny«, verkündet Philip und geht auf die Veranda zu.
Brian ergreift den Arm seines Bruders und hält ihn fest.
»Philip …« Brian will ihm von den dunklen Schatten erzählen, die über Visier und Seitenspiegel gehuscht sind, entscheidet sich dann aber dagegen. Er ist sich nicht sicher, ob Penny das hören soll.
»Was ist denn schon wieder?«, fährt Philip ihn an.
Brian schluckt. »Ich glaube, wir werden verfolgt.«
Die ehemaligen Bewohner der Villa gibt es hier schon seit langem nicht mehr. Drinnen sieht es so aus, als ob sie bereits Jahrzehnte vor Ausbruch der Plage ausgezogen wären. Vergilbte Laken hängen über den antiken Möbeln. Viele Zimmer sind leer, staubige Mahnmale einer anderen Zeit. Eine Standuhr tickt leise im Salon vor sich hin, und Zeugen einer längst vergangenen Ära schmücken die Villa: kunstvoll gearbeiteter Stuck, Fenstertüren und eine riesige Rundtreppe sowie zwei Kaminsimse mit Feuerstellen, so groß wie begehbare Kleiderschränke. Unter einem Laken lugt ein Flügel hervor, unter einem anderen eine uralte Musiktruhe, und ein drittes Laken ist über einen Holzofen geworfen.
Philip und Nick suchen das obere Stockwerk nach Zombies ab, finden aber nichts weiter als staubige Überreste des Alten Südens: eine Bibliothek, ein Flur voller Ölgemälde von Generälen der Konförderierten in vergoldeten Rahmen, ein Kinderzimmer mit einer verstaubten alten Wiege, die noch aus Kolonialzeiten stammt. Die Küche ist überraschend klein – ein weiteres Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert, als noch Sklaven oder Bedienstete das Kochen erledigten. Doch die Regale der gigantischen Speisekammer brechen beinahe unter der Last verstaubter Konserven zusammen. Jegliches Getreide und Reis sind bereits mehlig und voller Maden und Würmer, aber die Auswahl an konservierten Früchten und Gemüse ist atemberaubend.
»Du hast Wahnvorstellungen, Junge«, erklärt Philip leise, als sie vor dem prasselnden Feuer im Hauptsalon sitzen. Sie haben Feuerholz neben der Scheune gefunden. Es ist das erste Mal, dass sie sich wärmen, seitdem sie Atlanta verlassen haben. Die Wärme und der Schutz, den die Villa bietet, sowie die eingelegten Pfirsiche und Okraschoten lassen Penny auf der Stelle einschlafen. Im Augenblick liegt sie unter einer dicken Daunenbettdecke in einem Kinderzimmer im ersten Stock. Nick schläft im Zimmer daneben, aber die beiden Brüder leiden an Schlaflosigkeit. »Wer zum Teufel sollte uns schon folgen?«, fügt Philip hinzu und nimmt einen weiteren Schluck von dem Sherry, den er in der Speisekammer gefunden hat.
»Ich sage nur, was ich gesehen habe«, erwidert Brian und wippt nervös auf dem Schaukelstuhl vor und zurück. Er hat ein trockenes Hemd und eine Trainingshose übergezogen und fühlt sich beinahe wieder menschlich. Missmutig mustert er seinen Bruder, der in das Feuer starrt, als ob ihm darin ein Geheimnis offenbart werden würde.
Aus irgendeinem Grund bricht Philips hageres, besorgtes Gesicht, auf das die Flammen ihre Schatten werfen, Brian beinahe das Herz. Er erinnert sich an frühere gemeinsame Ausflüge in den Wald. Damals verbrachten sie die Nächte entweder im Zelt oder in einer Holzhütte. Er kann sich seines ersten Biers mit seinem Bruder entsinnen; Brian war damals dreizehn und Philip erst zehn. Schon damals trank ihn Philip förmlich unter den Tisch.
»Vielleicht war es ja ein Auto«, fährt Brian fort. »Oder ein Minivan. Kann ich nicht genau sagen. Aber ich schwöre, dass ich es gesehen habe … Und wenn es uns nicht hinterhergefahren ist, dann weiß ich nicht, was es sonst dort gemacht hat.«
»Was soll’s, wenn uns tatsächlich jemand verfolgt? Wen kümmert das?«
Brian überlegt eine Weile. »Nun … Wenn sie uns gut gesinnt sind … Ich nehme an, sie würden irgendwie Kontakt aufnehmen wollen. Entweder indem sie uns einholen oder uns irgendein Zeichen geben.«
»Wer weiß …« Philip starrt auf das prasselnde Feuer, aber seine Gedanken sind woanders. »Um wen auch immer es sich handeln mag … Wenn sie da draußen sind, dann geht es ihnen höchstwahrscheinlich genauso mies wie uns.«
»Könnte sein«, gibt Brian zu. »Vielleicht haben sie ja auch einfach Angst. Vielleicht … Vielleicht spionieren sie uns auch erst einmal aus.«
»Hier wird sich niemand einfach so an uns heranschleichen können, das verspreche ich dir.«
»Ist gut, Philip. Ist gut.«
Brian weiß genau, was sein Bruder damit sagen will. Die Lage der Villa ist ideal. Sie liegt auf einer Anhöhe, von der aus man kilometerweit in alle Richtungen über kahle Bäume hinwegblicken kann. Sie würden jeden Angreifer früh genug ausmachen können. Selbst bei Neumond ist die Obstplantage so still, dass es niemand schaffen würde, sich heranzuschleichen, ohne vorher entdeckt zu werden. Philip dachte zudem bereits laut über Stolperdrähte im Garten nach, damit sie rechtzeitig vor etwaigen Eindringlingen gewarnt werden würden.
Außerdem bietet das Haus alle Annehmlichkeiten, die man zum Leben braucht. Vielleicht könnten sie hier sogar den Winter verbringen. Im Hinterhof befindet sich ein Brunnen, der Traktor hat noch Diesel im Tank, es gibt eine Garage für die Harleys und Obstbäume, so weit das Auge reicht. An manchen hängen sogar noch essbare Früchte, wenn auch ihnen der Frost bereits arg zugesetzt hat. Und es ist genügend Feuerholz da, um den Ofen und die Kamine über Monate hinweg zu heizen. Das einzige Problem, das sie haben, sind Waffen. Sie durchsuchten die Villa von oben bis unten und fanden lediglich ein paar brauchbare Dinge in der Scheune: eine rostige, alte Sense und eine Heugabel. Schusswaffen waren jedoch nirgendwo zu entdecken.
»Alles klar?«, fragt Brian nach einer langen Schweigepause.
»Und wie.«
»Sicher?«
»Ja, Mutti.« Philip starrt weiterhin ins Feuer. »Nach ein paar Tagen hier werden wir alle fit wie Turnschuhe sein.«
»Philip?«
»Was?«
»Darf ich etwas sagen?«
»Mann, was kommt jetzt?« Philip starrt noch immer auf die lodernden Flammen. Er hat sein Unterhemd und eine trockene Jeans an. Seine Socken sind durchlöchert, sein großer Zeh lugt hervor. Der Anblick des großen Onkels in dem flackernden Licht – der Nagel hat auch schon bessere Tage gesehen –, bricht Brian erneut fast das Herz. Irgendwie lässt der Zeh seinen Bruder – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – verwundbar erscheinen. Ohne Philip würden sie allerdings wohl kaum mehr am Leben sein. Brian versucht also seine Gefühle runterzuschlucken.
»Ich bin dein Bruder, Philip.«
»Ach was.«
»Was ich damit sagen will … Ich verurteile dich nicht. Und werde es auch niemals tun.«
»Und?«
»Und … Ich finde es toll, was du für uns tust … Wie du dein Leben für uns auf Spiel setzt. Ich will nur, dass du Folgendes weißt: Ich rechne dir das hoch an.«