Philip zielt mit der nutzlosen Antiquität auf den Schädel des Eindringlings – sie stehen etwa zwei Meter voneinander entfernt. Philip tut so, als ob sie geladen wäre. Er scheint es beinahe selbst zu glauben. »Hm, ich drücke mal ein Auge zu«, sagt er, »und gehe davon aus, ihr habt gedacht, dass hier niemand mehr wohnt.«
»Du sagst, wie es ist, Bürschchen«, erwidert die Glatze gelassen und klingt beinahe so, als ob er unter Medikamenten- oder Drogeneinfluss stünde. Seine Zähne sind mit Goldkronen versehen und funkeln, als er ein reptilienartiges Grinsen zeigt.
»Dann bedanken wir uns schon mal, dass ihr uns in Ruhe lasst. So passiert euch auch nichts.«
Der Glatzkopf mit der Glock runzelt die Stirn. »He, das ist aber nicht nett von euch!« Der Mann leidet unter einer nervösen Zuckung, die seine Gewaltbereitschaft erahnen lässt. »Hab schon gesehen, dass ihr ein nettes, junges Ding da drinnen habt.«
»Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.« Philip weicht keinen Zentimeter. Er hört die Tür knarzen, dann nähern sich Schritte vom Salon her. Philip ist hin und her gerissen. Einerseits hat er Angst, was als Nächstes passieren könnte, andererseits will er dem Kerl zeigen, wer hier das Sagen hat. Er weiß, dass die nächsten Sekunden entscheidend sind – vielleicht sogar über Leben und Tod. Aber es fällt ihm erst einmal nichts anderes ein, als Zeit zu schinden. »Wir wollen kein Blut vergießen, Junge, und ich kann garantieren, dass es deines ist, das zuerst fließt, falls etwas passiert.«
»Große Klappe, wie ich sehe.« Plötzlich ruft er etwas zu einem Kumpan in der Dunkelheit. »Shorty?«
Eine Stimme antwortet. »Alles klar, ich habe ihn, Tommy!«
Im selben Moment taucht Nick vor der kaputten Fensterscheibe der Terrassentür mit einem großen Bowiemesser an der Kehle auf. Ihm folgt ein abgemagerter junger Kerl mit Pickeln und Bürstenhaarschnitt. Der Typ stößt die Tür mit dem Fuß auf und schubst Nick in die Küche.
»Tut mir leid, Philly«, ächzt dieser, ehe er gegen einen Schrank prallt und ihm einen Moment lang der Atem wegbleibt. Der schlanke Kerl mit dem Bürstenhaarschnitt hält das Messer an Nicks Adamsapfel gedrückt. Die Machete hat er in den Gürtel gesteckt. Das hibbelige, knöcherne Exemplar von Mann mit den fingerlosen Handschuhen macht den Eindruck, als ob es soeben aus dem Gefängnis ausgebrochen wäre. Er hat die Ärmel seiner Tarnjacke abgetrennt, und seine langen, dünnen Arme sind mit Tattoos nur so übersät.
»Jetzt mal ganz ruhig«, wendet sich Philip an die Glatze. »Es gibt keinen Grund …«
»Sonny!« Der haarlose Riese ruft einen weiteren seiner Schergen, und im selben Moment ertönen knarzende Schritte auf dem hundert Jahre alten Holzfußboden im Wohnzimmer. Philip hält seine Flinte noch immer auf den Glatzkopf gerichtet, wagt aber einen raschen Blick über die Schulter. Brian und Penny stehen zusammengedrängt hinter ihm, vielleicht eineinhalb Meter von ihm entfernt.
Zwei weitere Gestalten tauchen hinter Brian und Penny auf. Das kleine Mädchen zuckt verängstigt zusammen.
»Alles unter Kontrolle, Tommy!«, meldet einer der Neuankömmlinge und hält einen großen Revolver in die Luft, damit ihn alle sehen können – 357er Magnum oder 45er Army, ist nicht genau zu erkennen. Dann richtet er ihn auf Brians Hinterkopf. Philips Bruder erstarrt wie ein in die Enge getriebenes Tier.
»Es reicht«, meldet sich Philip erneut zu Wort.
Aus dem Augenwinkel sieht er, dass es sich bei den beiden Gestalten, die Brian und Penny in Schach halten, um einen Mann und eine Frau handelt … Allerdings fällt es ihm nicht leicht, die Bezeichnung Frau zu benutzen. Das Geschöpf, das Penny am Kragen hält, gleicht eher einer androgynen Marionette aus Haut und Knochen. Sie trägt eine Lederhose und diverse Netzoberteile. Die Augen sind mit einem rußigen Eyeliner geschminkt, sie hat stachelige Haare, und ihre Haut schimmert leicht grünlich gefärbt – wie die Haut eines Junkies. Nervös klopft sie mit dem Lauf ihrer Achtunddreißiger auf ihren dürren Oberschenkel.
Der Kerl neben ihr, der auf den Namen Sonny hört, macht ebenfalls den Eindruck, als ob er schon Bekanntschaft mit der Nadel gemacht hätte. Seine eingefallenen Augen starren aus einem pockennarbigen Gesicht, das ignorant und hinterhältig wirkt. Sein ausgemergelter Körper steckt in alten Armeeklamotten.
»Ich möchte dir danken, Kumpel«, sagt der Glatzkopf, steckt die Neun-Millimeter in sein Gürtelhalfter und tut so, als ob die Kraftprobe jetzt offiziell beendet wäre. »Ihr habt es euch hier recht gemütlich gemacht, das muss man euch lassen.« Er geht zur Spüle und trinkt in aller Ruhe etwas Wasser aus einem Krug, der auf der Arbeitsplatte steht. »Das wird ein nettes Quartier für uns.«
»Nette Pläne«, meint Philip und macht keine Anstalten, seine Flinte zu senken. »Es gibt nur ein Problem: Wir können nicht noch mehr Leute aufnehmen.«
»Ach, das macht nichts, Kumpel.«
»Und was habt ihr dann vor?«
»Vor?« Der Glatzkopf spricht das Wort so aus, als ob er erst überlegen müsste. »Wir haben vor, euch die Hütte hier abzunehmen. Sonst nichts.«
Jemand, den Philip nicht sehen kann, kichert amüsiert.
Philips Gehirn gleicht einem kaputten Schachcomputer, auf dem die Figuren wild hin und her tanzen. Er weiß genau, dass diese Kerle ihn und die anderen umbringen wollen. Er weiß, dass sie es mit Parasiten zu tun haben, die mit aller Wahrscheinlichkeit die Villa schon seit Wochen beobachtet haben. Offenbar litt Brian doch nicht unter Verfolgungswahn.
Es dringen weitere Geräusche an seine Ohren – gesenkte Stimmen, zerbrechende Äste –, und er zählt rasch zusammen: Das sind mindestens sechs an der Zahl, vielleicht mehr, und sie haben vier Autos – wenn das reicht. Außerdem scheint jeder eine Waffe und genügend Munition zu haben. Jede Menge Magazine und Schnelllader hängen an ihren Gürteln. Was ihnen jedoch anscheinend fehlt, ist Intelligenz. Vielleicht ist das Philips Chance. Selbst in den Augen des großen Glatzkopfs – allem Anschein nach der Anführer – scheint das Wort »Dumpfkiffer« geschrieben zu sein. Diese Kerle kennen keine Gnade, jeder Vorschlag guter Nachbarschaft wird auf taube Ohren stoßen. Philip sieht nur eine Chance.
»Kann ich noch was sagen?«, fragt er. »Ehe ihr euch falsche Hoffnungen macht.«
Der Glatzkopf hebt den Wasserkrug, als ob er einen Toast aussprechen wollte. »Klar, Kumpel.«
»Die Sache kann so oder so ausgehen.«
Das scheint die Aufmerksamkeit des Glatzkopfs zu wecken. Er stellt den Krug ab und wendet sich Philip zu. »So oder so?«
»Ja. Die erste Möglichkeit ist, dass wir mit dem Ballern anfangen, und ich kann dir jetzt schon sagen, wie das ausgehen wird.«
»Mach es nicht so spannend.«
»Deine Leute werden uns überwältigen, und das war es. Aber eines kann ich dir versprechen – und so sicher bin ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.«
»Und was wäre das?«
»Ganz gleich was passiert – ich weiß, dass ich einen Schuss abfeuern werde, und das soll jetzt keine Geringschätzung dir gegenüber sein, aber ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass sich der Großteil dieser Stahlkügelchen in die obere Hälfte deines Körpers bohren wird. Willst du jetzt die zweite Möglichkeit hören?«
Der Glatzkopf hat anscheinend seinen Humor verloren. »Raus damit.«
»Die zweite Möglichkeit lautet folgendermaßen: Ihr lasst uns hier heil raus, und wir lassen euch die Villa. Das erspart das blöde Aufräumen nach der Schießerei, und du darfst deinen Oberkörper und deinen Kopf behalten.«
Eine Zeit lang scheint alles gut zu gehen. Der Glatzkopf gibt die Befehle. Das Junkie-Paar – Philip hat sie mittlerweile Sonny und Cher getauft – lässt von Brian und Penny ab, sodass Brian das Mädchen durchs Wohnzimmer zur Eingangstür tragen kann.