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Brian hält Distanz und macht sich unsichtbar. Während er jedoch im Stillen Woodburys Machtstrukturen studiert, trifft er immer wieder auf einen Namen: Stevens.

Von seinen wenigen Unterhaltungen mit den Bewohnern und dem, was er mitbekommt, schlussfolgert Brian, dass sich Stevens nach Ausbruch der Plage zu neuen, besseren Ufern aufmachte – offenbar nach einer Scheidung, wie gemunkelt wird. Er ist ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der seine eigene Praxis in Atlanta hatte. Der Mann traf relativ frühzeitig auf die zusammengewürfelte Gruppe Überlebender in Woodbury und entschied sich angesichts der vielen Kranken, Unterernährten und Verwundeten dazu, hier seine Dienste anzubieten. Im Meriwether County Medical Center, drei Häuserblocks von der Pferderennbahn entfernt, machte er eine Art Praxis auf.

Am Nachmittag des siebten Tags in Woodbury kommt es Brian bei jedem Atemzug so vor, als ob ihm ein Messer in die Brust gestochen würde. Er nimmt also seinen Mut zusammen und sucht das niedrige graue Gebäude am südlichen Ende der Sicherheitszone auf.

»Sie haben Glück«, sagt Stevens und hängt ein Röntgenbild vor die beleuchtete Plexiglasscheibe. Er zeigt auf das verschwommene Abbild von Brians Rippen. »Keine schlimmen Brüche … Lediglich drei Mikrorisse an der zweiten, vierten und fünften Rippe.«

»Glück gehabt?«, murmelt Brian, der mit freiem Oberkörper auf der gepolsterten Bank sitzt. Sie befinden sich in einem bedrückend wirkenden, gefliesten Kellerraum im Meriwether County Medical Center – das ehemalige Pathologie-Institut –, das Stevens jetzt als Behandlungszimmer dient. Es stinkt nach Desinfektionsmittel und Schimmel.

»Nicht unbedingt ein Wort, das ich in letzter Zeit oft benutzt habe, das muss ich zugeben«, meint Stevens und geht zu einem Schränkchen aus Edelstahl, das neben der Plexiglasscheibe hängt. Er ist ein groß gewachsener, adrett aussehender Mann Ende vierzig und hat eine randlose Designerbrille, die auf seiner Nasenspitze sitzt. Seinen Arztkittel trägt er über einem weißen Hemd, und seine Augen wirken erschöpft, aber intelligent.

»Und das Keuchen?«, will Brian wissen.

Der Arzt durchforstet ein Fach mit Plastikampullen. »Das Anfangsstadium einer Rippenfellentzündung, die durch die angeknacksten Rippen hervorgerufen wurde«, murmelt er und sucht nach der richtigen Arznei. »Sie müssen so viel wie möglich husten … Es wird zwar wehtun, verhindert aber, dass sich septischer Katarrh in Ihrer Lunge sammelt.«

»Und was ist mit meinem Auge?« Der stechende Schmerz in Brians linkem Auge, der von seinem geprellten Kiefer ausgeht, ist während der letzten Tage schlimmer geworden. Jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickt, scheint das Auge noch blutunterlaufener zu sein.

»Das sieht gut aus«, erwidert Stevens und holt ein Fläschchen Pillen aus dem Schrank hervor. »Ihr Unterkiefer weist eine nicht unerhebliche Prellung auf, aber das vergeht mit der Zeit von selbst. Ich werde Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben.«

Stevens reicht Brian das Fläschchen und stellt sich mit verschränkten Armen vor ihn hin.

Aus Gewohnheit will Brian zum Portemonnaie greifen. »Ich weiß nicht, ob ich genug …«

»Hier wird nicht gezahlt«, meint der Arzt mit hochgezogenen Augenbrauen. Brians Geste scheint ihn etwas irritiert zu haben. »Es gibt keine Mitarbeiter, keinerlei Infrastruktur, keine Nachuntersuchungen – und wenn wir schon dabei sind, auch keinen vernünftigen Espresso oder halbwegs vernünftige Zeitungen, die man lesen könnte.«

»Oh … Verstehe«, stammelt Brian und steckt das Fläschchen mit den Pillen in die Tasche. »Und wie steht es um meine Hüfte?«

»Ein paar Quetschungen, aber nichts gebrochen«, lautet die Antwort. Stevens schaltet das Licht hinter der Plexiglasscheibe aus und schließt das Arzneimittelschränkchen. »An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Sorgen machen. Sie können sich jetzt wieder anziehen.«

»Gut … Danke.«

»Mit dem Reden haben Sie es nicht so – oder?« Der Arzt wäscht sich die Hände und trocknet sie dann an einem schmutzigen Handtuch ab.

»Da haben Sie recht.«

»Ist vermutlich besser so«, sagt Stevens und wirft das Handtuch ins Waschbecken. »Sie wollen mir wahrscheinlich nicht einmal Ihren Namen verraten.«

»Nun …«

»Schon gut. Vergessen Sie es. In den Akten wird einfach nur ›unkonventioneller Mann mit angebrochenen Rippen‹ stehen. Möchten Sie mir verraten, wie es dazu gekommen ist?«

Brian zuckt mit den Achseln und knöpft das Hemd wieder zu. »Bin hingefallen.«

»Haben Sie gegen die Exemplare gekämpft?«

Brian wirft Stevens einen fragenden Blick zu. »Die Exemplare?«

»Tut mir leid … Meine Ausdrucksweise. Beißer, Zombies, Eiterbeulen – wie man sie auch nennen mag. Haben Sie sich dadurch so verletzt?«

»Ja … So ähnlich.«

»Wollen Sie meine professionelle Meinung hören? Eine Prognose sozusagen?«

»Gerne.«

»Hauen Sie ab, solange es noch geht.«

»Wie bitte? Warum?«

»Chaostheorie.«

»Hä?«

»Entropie … Imperien gehen unter, Sterne verlodern … Die Eiswürfel in unseren Drinks schmelzen.«

»Tut mir leid, da komme ich nicht ganz mit.«

Der Arzt schiebt seine Brille hoch. »Es gibt hier ein Krematorium im zweiten Untergeschoss … Heute haben wir zwei Männer verbrannt – einer hatte zwei Kinder. Gestern früh wurden sie am nördlichen Rand der Sicherheitszone von Beißern attackiert. Während der Nacht wurden sie reanimiert. Es kommen immer mehr Beißer durch … Die Barrikade ist so löchrig wie ein Sieb. Die Chaostheorie beschäftigt sich mit der Unmöglichkeit eines geschlossenen Systems, stabil zu bleiben. Diese Stadt ist dem Untergang geweiht. Es gibt niemanden, der die Zügel in der Hand hält … Gavin und seine Schergen werden immer unverschämter … Und Sie, mein Freund, sind nichts weiter als Futter.«

Brian antwortet nicht, sondern starrt an Stevens vorbei ins Leere.

Schließlich steht er auf und streckt die Hand aus. »Danke, Doc.«

Brian ist von den Schmerzmitteln ganz benebelt, als er nachts ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür hört. Noch ehe er sich orientieren und das Licht anmachen kann, öffnet sich die Tür, und Nick kommt ins Zimmer. »Brian, bist du wach?«

»Klar«, knurrt er, pellt sich aus den vielen Decken und setzt sich auf die Bettkante. In der Wohnung haben nur wenige Steckdosen tatsächlich Strom, und in Brians Schlafzimmer gibt es keine einzige. Er schaltet die batteriebetriebene Lampe an und sieht, dass Nick ins Zimmer kommt, die Miene vor Anspannung verzerrt.

»Das musst du dir anschauen«, sagt er drängend, geht zum Fenster und schielt durch die Jalousie. »Ich habe ihn schon gestern Nacht gesehen. Heute ist es wieder das Gleiche. Zuerst hielt ich es für das Beste, es zu ignorieren.«

Brian ist zwar noch immer nicht ganz bei sich, stolpert aber ebenfalls zum Fenster. »Was gibt es?«

Hinter der Jalousie in der Dunkelheit des Parkplatzes taucht Philips Silhouette aus dem dahinterliegenden Wäldchen auf. In der Finsternis sieht er nach nicht viel mehr als einem Strich in der Landschaft aus. Seit Pennys Tod hat er stetig abgenommen, kaum noch geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Er ist ein kranker, gebrochener Mann, und seine ausgebleichte Jeans scheint das Einzige zu sein, das seine langen dünnen Beine noch zusammenhält. Er trägt einen Eimer und wirkt merkwürdig hölzern – wie ein Schlafwandler oder ein Roboter.

»Was soll das mit dem Eimer?«, fragt Brian.

»Genau!« Nick kratzt sich nervös am Kopf. »Den hatte er letzte Nacht auch schon dabei.«

»Okay, Nick. Bleiben wir hier.« Brian schaltet die Lampe aus. »Und schauen wir, was passiert.«