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Der Lärm hat zugenommen. In der Ferne, am nördlichen Rand des Städtchens, zeigt sich sich eine Gewitterwolke am stahlgrauen Himmel. Das Heulen von Motoren wird vom Wind zu ihnen herübergetragen, und mit einiger Erleichterung stellt Brian fest, dass es sich wahrscheinlich um ein Rennen auf der stadteigenen Rennstrecke handelt. Ab und zu hört er Jubeln und Klatschen.

Plötzlich wird Brian flau im Magen. Wissen diese Idioten denn nicht, dass der Lärm jeden Beißer im Umkreis von fünfzig oder gar hundert Kilometern anlocken wird? Er lauscht dem Gesäge, das der Wind ebenfalls bis an seine Ohren trägt. Wie ein Radiosender, der einmal deutlicher, einmal weniger deutlich zu empfangen ist, dringt es in Brians Bewusstsein und berührt eine Wunde tief in seinem Inneren. Er sehnt sich nach den Zeiten vor der Plage. Schmerzvolle Erinnerungen fauler Sonntagnachmittage und durchschlafener Nächte drängen sich ihm auf – als er noch unbehelligt in einen Laden gehen konnte, um nichts weiter als harmlose Milch zu kaufen.

Brian geht wieder hinein, zieht eine Jacke an und verkündet Nick, dass er einen Spaziergang machen will.

Der Zugang zur Rennstrecke liegt an der Hauptstraße. Zwischen zwei Ziegelhaufen ist ein hoher Maschendrahtzaun gespannt. Als Brian näher kommt, sieht er Müll und alte Autoreifen um die Kasse verstreut. Der Bretterverschlag des dürftigen Gebäudes ist mit Graffiti verschmiert.

Der Lärm ist jetzt ohrenbetäubend. Das Heulen der Motoren und die jubelnde Menge von Zuschauern wird von dem beißenden Gestank von Benzin und verbranntem Gummi begleitet. Staubwolken und Rauch hängen in der Luft.

Brian findet ein Loch im Zaun und will gerade hindurchschlüpfen, als er eine Stimme hört.

»He!«

Er hält inne, dreht sich um und sieht drei Männer in heruntergekommener Militärkluft auf sich zukommen. Zwei von ihnen sind Mitte zwanzig mit fettigen langen Haaren und Sturmgewehren über den Schultern, als ob sie auf Patrouille wären. Der älteste der Bande – ein harter Hund mit Bürstenschnitt und einer olivgrünen Jacke mit einem Patronengurt über der Brust – geht voran. Er hat offensichtlich das Sagen.

»Der Eintritt kostet vierzig Dollar oder das Gleiche in Handelsware.«

»Eintritt?«, wiederholt Brian überrascht. Dann sieht er den Aufnäher auf der Brust der olivgrünen Jacke: Maj. Gavin. Bisher hat Brian die brutalen Mitglieder der Nationalgarde immer nur flüchtig aus der Ferne gesehen. Jetzt kann Brian dem Mann jedoch genau in die eisigen blauen Augen schauen. Er hat eine Alkoholfahne: Whiskey. Genauer gesagt: Jim Beam – vermutete Brian zumindest.

»Vierzig Dollar pro Erwachsener, Kleiner. Bist du schon erwachsen?« Die anderen lachen. »Kinder kommen umsonst rein. Aber du siehst mir so aus, als ob du schon über achtzehn wärst – gerade so.«

»Ihr verlangt Geld von den Leuten?« Brian versteht die Welt nicht mehr. »Jetzt? In diesen Zeiten?«

»Wir tauschen auch gerne. Hast du vielleicht ein Huhn? Oder irgendwelche Pornohefte, über denen du genug gewichst hast?«

Erneutes Lachen.

Brian erstarrt vor Wut. »Ich habe keine vierzig Dollar.«

Der Major hört abrupt auf zu grinsen, als ob er das Grinsen einfach abgeschaltet hätte. »Dann wünsche ich noch einen schönen Tag.«

»Wer bekommt das Geld?«

Plötzlich horchen die beiden anderen Nationalgardisten auf. Sie drängen sich um Brian. Gavin stößt mit seiner Nase an die von Brian und knurrt leise und bedrohlich: »Das ist für die Gemeinschaft.«

»Die was?«

»Die Gemeinschaft, das Kollektiv … Wird zum Wohlergehen aller ausgegeben und so.«

Brian spürt, wie er noch wütender wird. »Zum Wohlergehen von euch dreien?«

»Tut mir leid«, verkündet der Major mit eisiger Stimme. »Ich habe wohl die Aktennotiz übersehen, in der es heißt, dass du der neue Stadthalter bist. He, Jungs! Habt ihr das Memo gesehen, in dem steht, dass dieser Prolet hier der neue Stadthalter von Woodbury ist?«

»Nein, Sir«, antwortet einer der Lakaien mit den fettigen Haaren. »Haben wir nicht erhalten.«

Gavin zieht eine Fünfundvierziger-Semiautomatik aus dem Pistolenhalfter, entsichert sie und drückt den Lauf gegen Brians Schläfe. »Kleiner, du solltest dich mal ein bisschen über Gruppendynamik schlau machen. Hast du Staatsbürgerkunde in der Schule verpasst, oder was?«

Brian gibt keinen Ton mehr von sich. Stattdessen starrt er den Major an und beginnt rotzusehen. Seine Hände kribbeln, sein Kopf fängt an, sich zu drehen.

»Schön ›A‹ sagen«, befiehlt der Major.

»Was?«

»ICH HABE GESAGT, DU SOLLST DEIN GOTTVERDAMMTES MAUL ÖFFNEN!«, brüllt Gavin, und die beiden anderen Gardisten streifen ihre Sturmgewehre von der Schulter und legen an. Jetzt sind drei Läufe auf Brians Kopf gerichtet. Brian öffnet den Mund, und Gavin steckt Brian den Lauf seiner Waffe zwischen die Zähne – wie ein Zahnarzt, der nach Löchern sucht.

Irgendetwas zerbricht in Brian. Der kalte Stahl in seinem Mund schmeckt wie alte Geldmünzen und Bittermandelöl. Die Welt nimmt eine tiefe purpurrote Farbe an.

»Geh wieder dahin, wo du herkommst«, meint der Major. »Sonst könnte dir etwas passieren.«

Brian schafft es gerade noch zu nicken.

Wenn er jetzt nicht den Mund hält, kann es ihn sein Leben kosten.

Wie im Traum entfernt sich Brian langsam von den Nationalgardisten, dreht sich um und wird schneller. Er rennt dorthin zurück, wo er hergekommen ist – durch eine unsichtbare, blutrote Wolke.

Gegen neunzehn Uhr an jenem Abend kehrt Brian wieder in die Wohnung zurück. Allein. Er trägt noch immer seine Jacke und steht erneut vor dem vergitterten Fenster im hinteren Teil des Wohnzimmers. Aufgewühlt starrt er in das schwächer werdende Tageslicht hinaus, und seine Gedanken überschlagen sich wie Wellen an einem Wellenbrecher. Er presst die Hände auf die Ohren. Das gedämpfte Pochen und Hämmern des Miniaturzombies nebenan führt dazu, dass er noch stumpfer in die Gegend starrt und sich immer tiefer in sich selbst vergräbt.

Zuerst merkt Brian kaum, dass Nick ebenfalls zurückgekehrt ist. Er nimmt lediglich ein Schlurfen, gefolgt vom Öffnen der Schranktür wahr. Als er aber ein entferntes Murmeln im Flur hört, schreckt er aus seiner Trance auf und verlässt das Zimmer, um nachzusehen, was da vor sich geht.

Nick durchwühlt den Schrank. Seine Nylonjacke ist feucht, seine Turnschuhe voller Schlamm. Außerdem stammelt er immer wieder so etwas wie: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen … von welchen mir Hilfe kommt … Meine Hilfe kommt von dem Herrn … der Himmel und Erde gemacht hat.«

Brian sieht, wie Nick das Gewehr mit dem Pistolengriff aus dem Schrank holt.

»Nick? Was hast du vor?«

Nick bleibt ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen klappt er die Waffe auf, um zu sehen, ob sie geladen ist. Sie ist es nicht. Panisch sucht er den Schrankboden ab, bis er endlich eine Schachtel mit Munition findet, die sie den ganzen Weg von der Villa bis nach Woodbury mitgebracht haben. Er hört mit dem Stammeln nicht auf. »Der Herr behüte dich vor allem Übel … er behüte deine Seele …«

Brian geht einen Schritt auf ihn zu und fragt erneut: »Nick, was geht hier vor sich?«

Aber er erhält noch immer keine Antwort. Nick versucht, die Munition mit zitternden Händen in den Lauf zu schieben, wobei er eine Patrone fallen lässt. Sie rollt über den Boden. Er sucht nach einer weiteren, steckt sie in den Lauf und klappt das Gewehr zu. »Siehe, der Hüter Israels schläft nicht noch schlummert er …«

»Nick!« Brian packt den Mann an der Schulter und dreht ihn zu sich. »Was ist los mit dir?«

Für eine Sekunde sieht es so aus, als ob Nick das Gewehr erheben will, um Brian eine Kugel in den Kopf zu jagen. Sein Gesicht ist vor Zorn völlig verzerrt. Dann gewinnt er wieder die Kontrolle über sich, schluckt, blickt Brian in die Augen und sagt: »Das kann so nicht weitergehen.«