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»Nick, warte! Bitte, bitte! Hör mir zu!« Brian umkreist Nick und hält dabei seine Achtunddreißiger in die Luft. Er kommt wenige Zentimeter vor Nick zum Stehen, der den Lauf noch immer auf Philips Gesicht gerichtet hat. Brian redet weiter. »Die ganzen Jahre, die ihr in Waynesboro wart, die vielen Male, die ihr zusammen gelacht habt, die ganzen Meilen, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben – zählt das alles nichts mehr? Philip hat uns das Leben gerettet! Die Sache hier ist aus dem Ruder gelaufen, klar. Aber das kriegen wir schon wieder ins Lot. Runter mit der Waffe, Nick. Komm schon, ich flehe dich an.«

Nick beginnt zu zittern, hält die Waffe aber immer noch auf Philip gerichtet. Schweißtropfen treten auf seine Stirn.

Philip tritt einen Schritt auf ihn zu. »Mach dir nichts draus, Brian. Unser Nick hier ist schon immer etwas geschwätzig gewesen. Der hat es einfach nicht in sich, auf jemanden zu schießen, der noch am Leben ist.«

Nick zittert jetzt wie Espenlaub.

Brian sieht den beiden Freunden zu und ist vor Unentschlossenheit wie gelähmt.

Philip greift in aller Ruhe nach der Frau, packt sie am Genick, zieht sie vom Boden hoch wie ein Gepäckstück, dreht sich um und zerrt das sich windende Geschöpf bis an den Rand der Lichtung.

Nicks Stimme ist jetzt tiefer als zuvor. »Herr, sei uns gnädig.«

Plötzlich lädt er die Waffe durch.

Und drückt ab.

Eine Schrotflinte mit einer 12-mm-Bohrung ist ein kompromissloses Instrument. Die tödlichen Schrotkügelchen Kaliber dreiunddreißig können sich über eine kurze Distanz über mehr als dreißig Zentimeter ausbreiten und treffen ihr Ziel mit genügend Wucht, um einen Porenbetonstein in seine Bestandteile explodieren zu lassen.

Das grobe Schrot, das in Philips Rücken dringt, schießt erst durch das Fleisch seines Schulterblatts, ehe er die Bänder seines Genicks zerreißt. Das Schrot hat auch den Kopf der Frau erwischt und sie im Handumdrehen getötet. Die beiden wirbeln in einem purpurnen Nebel durch die Luft.

Sie landen Seite an Seite auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt. Die junge Frau ist bereits tot und bewegt sich nicht mehr, während Philip die letzten quälenden Sekunden von den Zuckungen eines heftigen Todeskampfes heimgesucht wird. Auf seinem Gesicht ist die völlige Überraschung zu sehen, die er empfindet. Er versucht zu atmen, doch sein Gehirn ist bereits dabei, sämtliche Körperfunktionen abzuschalten.

Der Schock über das, was soeben passiert ist, zwingt Nick Parsons in die Knie. Sein Finger ist noch am Abzug, und die Schrotflinte in seiner Hand qualmt von der Hitze der Explosion.

Er kann nichts anderes mehr sehen als das, was er den beiden Menschen vor sich angetan hat. Bestürzt lässt er die Schrotflinte zu Boden fallen, und obwohl sich sein Mund unentwegt bewegt, kommt kein Ton heraus. Was hat er getan? Er spürt, wie sich sein Inneres zusammenzieht – wie eine Samenschote, kalt und verlassen. Das Armageddon-Dröhnen hallt in seinen Ohren wider, die heißen Tränen der Scham fließen jetzt in Strömen über sein Gesicht. Was hat er getan? Was hat er verbrochen? Welche Schuld hat er nur auf sich geladen?

Brian Blake wird zu Eis. Seine Pupillen weiten sich. Der Anblick seines Bruders, der in einem blutigen Haufen auf dem Waldboden neben dem toten Mädchen liegt, brennt sich für immer in sein Gehirn ein und verdrängt alle anderen Gedanken.

Nur Nicks Wehklagen durchdringt die Benommenheit, die von Brian Besitz genommen hat.

Nicks lautes Heulen wird ab und zu von Schluchzern unterbrochen. Er ist noch immer auf den Knien. Jegliche Vernunft hat Nick Parsons verlassen, und bei dem Anblick des Gemetzels vor seinen Augen jammert und winselt er immer wieder laut auf. Er schwätzt irgendeinen Unsinn, während ihm der Rotz aus der Nase läuft – teils Stoßgebet, teils Flehen. Sein Atem wird in der kalten Luft der Abenddämmerung zu Dampf, und er richtet den Blick flehend zum Himmel hinauf.

Ohne nachzudenken hebt Brian seine Waffe und drückt, angetrieben von einem unbändigen Zorn, ab. Ein einziger Schuss aus nächster Nähe in Nick Parsons’ Schläfe.

Ein Strahl roter Flüssigkeit schießt mit der Wucht eines Rammbocks durch die Luft. Die Kugel zerfetzt Nicks Gehirn und tritt an der anderen Seite wieder aus, ehe sie sich in einer Baumwurzel vergräbt. Nick sackt in sich zusammen. Seine Augen rollen nach hinten in ihre Höhlen.

Er landet zusammengerollt wie ein schlafendes Kind auf dem Waldboden.

Die Zeit verliert ihre Bedeutung. Brian bemerkt die dunklen Silhouetten nicht, die sich ihm, angezogen von dem Tumult, durch den finsteren Wald nähern. Auch nimmt er die Gestalten nicht wahr, die sich über die Rodung auf die verstümmelten Leichen zubewegen. Irgendwie, ohne dass er sich es selbst erklären kann, endet Brian Blake auf dem Boden neben Philip und hält die blutigen Überreste seines jüngeren Bruders in seinem Schoß.

Er starrt auf Philips markantes, blutbespritztes Gesicht, das jetzt so weiß wie Alabaster ist.

Ein Lebensflimmer schimmert noch in seinen Augen, als sich die Blicke der Brüder treffen, und für einen Moment zuckt Brian angesichts der Trauer, die ihn durchschneidet, zusammen. Die Verbindung der beiden, das Blut, das sie teilen, ist dick und reicht tief bis ins Innerste. Jetzt zerreißt die Pein Brians Seele. Das Gewicht ihrer gemeinsamen Geschichte – die endlose Langeweile in der Schule, die willkommenen Sommerferien, das spätabendliche Geflüster von einem Bett zum anderen, die ersten gemeinsamen Biere auf dem unglückseligen Campingausflug in den Appalachen, ihre geteilten Geheimnisse, ihre Kämpfe, ihre kleinstädtischen Träume, die das Leben so grausam zerschlug – all das zerschneidet in diesem Augenblick sein Herz.

Er weint – so hell und durchdringend wie ein gefangenes Tier –, und sein Schluchzen steigt in den dunkler werdenden Himmel auf, bis es sich mit dem weit entfernten Heulen der Rennwagenmotoren vereint. Er heult so inbrünstig, dass er nicht merkt, wie Philip aus seiner Welt scheidet.

Als Brian wieder seinen Bruder ansieht, hat sich dessen Gesicht bereits in eine weiße marmorne Skulptur verwandelt.

In etwa fünf Metern Entfernung erzittert das Laub. Mindestens ein Dutzend Beißer jeglicher Couleur, Größe und Form stolpert durch das Unterholz.

Der Erste, ein erwachsener Mann in zerfetzten Arbeitskleidern, dringt durch das Gestrüpp, die Arme ins Nichts ausgestreckt. Seine dicht beieinanderliegenden Augen suchen die Lichtung ab, bis sie auf das ihm am nächsten liegende Mahl treffen: Philips abkühlender Leichnam.

Brian Blake rafft sich auf und wendet sich ab. Er kann nicht zusehen. Er weiß, dass das die beste Art ist – seine Art. Sollen die Zombies das Chaos auf ihre Weise aufräumen.

Er steckt die Waffe wieder in seinen Gürtel und verschwindet in Richtung Baustelle.

Auf der Fahrerkabine eines Trucks findet er einen sicheren Platz, von wo aus er den Futterrausch in Ruhe abwarten kann.

Sein Gehirn ähnelt einem Fernseher, der zig Stationen abspielt. Er zieht die Achtunddreißiger aus dem Gürtel und hält sich daran fest, als ob es das Einzige in der Welt wäre, das ihm jetzt noch Halt und Geborgenheit bringen könnte.

Stimmengewirr und die Fragmente halb geformter Bilder rasen unkontrolliert durch Brians Kopf. Die Abenddämmerung hat der Dunkelheit Platz gemacht. Die nächste Lichtquelle – die Stadionscheinwerfer – ist mehrere hundert Meter entfernt. Brian nimmt seine Umwelt in der Bildhelligkeit eines Negativs wahr, seine Sinne sind so scharf wie die Klinge eines japanischen Messers. Er ist jetzt allein … So allein wie noch nie zuvor … Und das macht ihm mehr zu schaffen als all die Zombies um ihn herum.

Die Geräusche des Futterrauschs, feucht, saugend und gurgelnd, sind kaum noch über dem konstanten Heulen der Motoren der Rennwagen zu hören. In einer hinteren Ecke seines Gehirns weiß Brian, dass der Lärm des Rennens den Tumult auf der Lichtung übertönt, was wahrscheinlich von Philip mit eingeplant war, damit seine Entführung nicht bemerkt werden würde.