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»Daddy ist bei dir, Schatz. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, beruhigt Philip sie liebevoll und streichelt ihr über die Wange. »Ich werde immer für dich da sein.«

Sie nickt.

Philip schenkt ihr ein Lächeln. Er beugt sich über sie und gibt ihr einen Kuss auf die linke Augenbraue. »Niemand und nichts wird dir etwas antun. Dafür werde ich sorgen.«

Sie nickt erneut. Der kleine Pinguin lugt zwischen ihrem Hals und ihrem Kinn hervor. Sie blickt ihn an und runzelt die Stirn. Dann hebt sie ihn an ihr Ohr, als ob sie ihm zuhören würde, während er ihr ein Geheimnis anvertraut. Danach schaut sie wieder zu ihrem Vater hoch. »Daddy?«

»Ja, mein Schatz?«

»Pinguin möchte etwas wissen.«

»Was denn?«

»Pinguin möchte wissen, ob die Leute krank sind.«

Philip holt tief Luft. »Sag dem Pinguin: Ja, sie sind krank. Die sind viel mehr als nur krank. Und darum haben wir sie … haben wir sie von ihrem Leid erlöst.«

»Daddy?«

»Ja?«

»Pinguin will wissen, ob wir auch krank werden.«

Philip streicht ihr erneut mit der Hand über die Wange. »Nein, meine Kleine. Sag Pinguin, dass wir gesund bleiben. Gesund genug, um Bäume auszureißen.«

Das scheint das Mädchen so weit zu beruhigen, dass es sich von ihrem Vater abwendet und erneut in die Luft zu starren beginnt.

Gegen vier Uhr morgens quält sich ein weiterer unruhiger Geist mit anderen unbeantwortbaren Fragen. Unter einem Haufen Decken, den dünnen Körper lediglich in T-Shirt und Unterhose gehüllt, treibt das Fieber Brian Blake den Schweiß auf die Stirn. Im Zimmer des toten Mädchens dieses Hauses starrt er auf die stuckverzierte Decke und überlegt, ob die Welt wohl so enden soll. War es nicht Rudyard Kipling, der einmal sagte, dass die Welt nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer untergehen wird? Nein, einen Augenblick … Das war Eliot. S. Eliot. Brian erinnert sich daran, das Thema dieses Gedichts an der Uni behandelt zu haben. Hieß es nicht Die hohlen Männer? Es war an der Universität von Georgia gewesen, in einem Kurs für vergleichende Literaturwissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Dieses Studium hatte ihm wirklich verdammt viel gebracht.

Er liegt da und grübelt über seine Misserfolge nach – wie jede Nacht. Doch diesmal mischen sich auch die Eindrücke des Gemetzels hinein, wie schreckliche Bilder aus einem Snuff-Film, die sich in sein Bewusstsein drängen.

Alte Dämonen tauchen wieder auf, vermengen sich mit neuen Ängsten und quälen ihn bis in sein Innerstes: Hätte er etwas tun oder sagen können, um seine Exfrau Jocelyn bei sich zu behalten und sie davon abzubringen, ihm diese ganzen schrecklichen Vorwürfe zu machen, ehe sie ein für alle Mal zurück nach Montego Bay fuhr? Kann man Monster mit einem einzigen Hieb auf den Kopf töten, oder muss man auch das Hirngewebe zerstören? Hätte er etwas tun können – selbst betteln oder sich Geld leihen –, um seinen Musikladen in Athens zu behalten, der einzige seiner Art im Süden, seine grandiose Idee eines Ladens, der ausschließlich Hip-Hop-Künstler mit neu ausgestatteten Plattenspielern, gebrauchten Bassboxen und protzigen Mikros im Stil von Snoop Doggs Bling bediente? Wie schnell wächst die Zahl der unglücklichen Opfer da draußen eigentlich? Handelt es sich um eine luftübertragene Krankheit oder verbreitet sie sich über das Wasser wie der Ebolavirus?

Seine Gedanken drehen sich eine Weile im Kreis, bevor er sich wieder auf das Hier und Jetzt besinnt. Er kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sich das siebte Familienmitglied, das hier einmal gewohnt hat, noch immer irgendwo im Haus befindet.

Jetzt, da er Bobby und Nick dazu brachte hierzubleiben, muss er erst recht immer wieder an den Jungen denken. Er nimmt jedes Knarzen, jedes noch so leise Geräusch des Hauses wahr, selbst das Surren der Heizung, wenn sie anspringt. Aus ihm unerfindlichen Gründen ist er sich absolut sicher, dass sich der blonde Junge noch im Haus befindet und wartet, bis … Ja, bis was? Vielleicht wurde der Kleine ja gar nicht angesteckt. Vielleicht schlottert er stattdessen vor Angst in einem Versteck.

Ehe sie zu Bett gingen, bestand Brian noch einmal darauf, dass sie das ganze Haus von oben bis unten durchsuchen. Philip war mitgekommen, den Pickel in einer Hand und eine Taschenlampe in der anderen. Sie hatten jeden Winkel im Keller, jeden Schrank, jede Kammer und sämtliche Abstellkammern kontrolliert. Selbst die Tiefkühltruhe im Keller, die Waschmaschine und den Trockner durchforsteten sie nach unwillkommenen Gästen. Nick und Bobby waren für den Dachboden zuständig und stöberten zwischen Koffern, Kisten und in Kleiderschränken. Philip sah unter jedes Bett und hinter jede Kommode. Obwohl sie nicht das fanden, wonach sie suchten, machten sie doch die eine oder andere nützliche Entdeckung.

Zum einen gab es einen Hundefressnapf im Keller. Doch von einem Hund war weit und breit nichts zu sehen. Außerdem stießen sie in der Werkstatt des Hauses auf eine Reihe überaus nützlicher Elektrowerkzeuge: Stichsägen, Bohrer, Fräsen und sogar eine Nagelpistole. Diese würde sich bestimmt als sehr brauchbar erweisen, wenn sie die Barrikaden bauten. Nicht nur ist sie schneller, als wenn man selbst hämmern muss, sondern auch wesentlich leiser.

Brian fiel noch eine andere Verwendung für die Nagelpistole ein, an die er jetzt wieder denken muss, als er ein Geräusch wahrnimmt, das ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagt.

Das Geräusch dringt von oben zu ihm herunter und zwar vom anderen Ende seines Zimmers.

Es kommt vom Dachboden.

Drei

Kaum hört Brian das Geräusch, das er sofort als etwas anderes als ein Knarzen des Hauses, als den Wind in den Dachgauben oder als die ratternde Heizung identifiziert, schnellt er mit einem Ruck hoch.

Er legt den Kopf seitlich, um besser hören zu können. Es klingt so, als ob jemand herumkratzen oder als ob ruckartig ein Stück Stoff zerreißen würde. Zuerst will Brian seinem Bruder Bescheid geben. Philip soll das regeln, der kann das. Um Himmels willen, das könnte der Junge sein – oder noch etwas viel Schlimmeres …

Doch plötzlich besinnt sich Brian und reißt sich zusammen. Wenn er jetzt wieder den Schwanz einzieht, so wie immer? Will er wirklich wieder zu seinem Bruder laufen, wie er das immer getan hat? Zu seinem jüngeren Bruder, verdammt noch mal! Der gleiche, dessen Hand Brian jeden Morgen an der Kreuzung halten musste, als sie noch zur Grundschule in Burke County gingen? Nein, zum Teufel. Das muss ein Ende nehmen. Brian will ihm endlich zeigen, dass auch er Eier hat.

Er holt tief Luft, dreht sich um und sucht nach der Taschenlampe, die er neben sich auf den Nachttisch gelegt hat. Nach einigen Sekunden hat er sie ertastet und schaltet sie ein.

Der dünne Lichtstrahl erhellt das dunkle Schlafzimmer und taucht die gegenüberliegende Wand in einen silbrigen Schimmer. Nur du und ich, Justin, denkt Brian und steht auf. Sein Kopf ist klar, die Sinne in Alarmbereitschaft.

Eigentlich fühlt sich Brian in ausgezeichneter Verfassung, vor allem, nachdem er den Plan seines Bruders so aktiv unterstützte. Allein Philips Blick – als ob Brian mehr als nur ein nutzloser Taugenichts wäre – hat ihm neuen Mut gegeben. Jetzt ist es an der Zeit, Philip zu zeigen, dass die Szene in der Küche keine einmalige Geschichte war, sondern dass er sich genauso ins Zeug legen kann wie sein Bruder.

Leise schleicht er in Richtung Tür.

Ehe er das Schlafzimmer verlässt, nimmt er noch den Baseballschläger aus Metall, den er im Zimmer eines der Jungs gefunden hat.

Das Rascheln von oben ist im Gang noch deutlicher zu hören. Brian hält unter dem Zugang zum Dachboden auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks inne. Die anderen Schlafzimmer entlang des Flurs, hinter deren Türen Bobby Marsh und Nick Parsons schnarchen, liegen am anderen Ende des Treppenabsatzes an der Ostseite. Dort kann man das Geräusch nicht hören. Es bleibt also nur Brian, der sich der Sache annehmen muss.