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Ein unruhiges Raunen erfasst den Saal. Der alte Mann ist der Einzige, der sich traut, das Wort zu erheben. »Und was soll das heißen?«

Gavin geht auf ihn zu. »Das soll heißen, dass jeder hier meinen Befehlen Folge leisten und schön brav sein wird.« Dann tätschelt er dem alten Mann die Glatze, als ob es sich um ein harmloses Haustier handeln würde. »Immer schön gehorchen und genau das machen, was man euch sagt, und dann haben wir sogar den Hauch einer Chance, dies alles zu überstehen.«

Der alte Mann schluckt. Die meisten Leute starren zu Boden. Für Brian ist eines klar: Die Menschen in Woodbury stecken tief in der Klemme. Der Hass in dem Saal liegt so dick in der Luft, dass man sie zerschneiden könnte. Doch die Angst siegt. Sie steigt aus jeder Pore der Anwesenden – einschließlich Brian, der aber hart gegen sie anzukämpfen versucht. Er schluckt den Kloß, der in seinem Hals steckt, hinunter.

Jemand im vorderen Teil des Saales in der Nähe der Fenster meldet sich zu Wort. Brian ist zu weit entfernt, um es zu verstehen, und stellt sich auf die Zehenspitzen, damit er sehen kann, um wen es sich handelt.

»Gibt es etwas, das du uns mitteilen willst, Detroit?«, erkundigt sich der Major gereizt.

Der schwarze Mann mittleren Alters mit seiner fettigen Latzhose und dem grauem Bart sitzt auf einem Stuhl und macht einen unzufriedenen Eindruck. Finster starrt er aus dem Fenster. Seine langen gelbbraunen Finger sind mit Wagenschmiere überzogen. Der einzige Mechaniker vor Ort ist aus dem Norden hergezogen. Er murmelt etwas vor sich hin und beachtet den Major überhaupt nicht.

»Immer raus mit der Sprache, Homeboy.« Der Major kommt mit großen Schritten näher. Als er neben ihm steht, fährt er fort: »Was ist dein Problem? Gefällt dir etwa die Freizeitgestaltung nicht?«

Kaum hörbar erwidert der Schwarze: »Ohne mich.«

Er steht auf und dreht sich zum Ausgang, als der Major plötzlich seine Waffe zieht.

Mit einem beinahe unwillkürlichen Instinkt greift der schwarze Mann mit seiner großen, schwieligen Hand nach dem Revolver in seinem Gürtel. Aber ehe er ziehen kann, hat Gavin die Waffe schon auf ihn gerichtet. »Ach, tu mir doch den Gefallen, Detroit«, knurrt der Major und richtet den Lauf gegen dessen Kopf. »Ich wollte schon immer deinen krausen Schädel in tausend Stücke blasen.«

Die Soldaten reihen sich hinter ihrem Major auf und heben ihre Sturmgewehre. Alle starren sie den schwarzen Mechaniker an.

Mit der Hand am Griff seiner Waffe, den Blick starr auf Gavin gerichtet, murmelt er: »Es ist schon schlimm genug, dass wir die Toten da draußen bekämpfen müssen … Und jetzt kommst du und willst uns auch noch herumschubsen.«

»Setz. Dich. Hin. Sofort.« Gavin drückt den Lauf jetzt fester gegen den Schädel des Mechanikers. »Oder ich werde dich hinrichten. Hier und jetzt.«

Detroit seufzt genervt und nimmt wieder Platz.

Da wendet sich der Major an die restlichen Bewohner. »Das Gleiche gilt für euch! Glaubt ihr, dass ich hier auf Kur bin? Dass ich das aus Jux und Dollerei mache? Das ist hier keine Demokratie, Leute, es geht um Leben und Tod!« Er beginnt wieder, vor den Leuten auf und ab zu marschieren. »Wenn ihr nicht als Hundefutter enden wollt, müsst ihr mir gehorchen. Lasst die Profis ran!«

Die Stille legt sich über den Versammlungsraum wie Giftgas. Ganz hinten spürt Brian, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichten. Sein Herz pocht so heftig in seiner Brust, dass es droht, ein Loch in sein Brustbein zu schlagen. Er bekommt kaum noch Luft. Er will diesem Möchtegernsoldaten den Hals umdrehen, aber sein Körper verkrampft sich, und Brian weiß nicht, ob er flüchten oder sich dem Ganzen stellen soll. Durch seinen Kopf schwirren Fragmente von Erinnerungen, Szenen und Geräuschen eines angstbestimmten Lebens. Schon auf dem Spielplatz der Burke-County-Grundschule musste er kleinen Tyrannen aus dem Weg gehen und schlich immer um den Parkplatz des Supermarkts, um nicht den Schlägern in die Finger zu geraten. Er rannte vor einer Gang beim Kid-Rock-Konzert davon und hoffte stets auf Philips Hilfe … Wo zum Teufel ist Philip, wenn man ihn braucht?

Ein Geräusch aus der Richtung des Rednerpults rüttelt Brian auf.

Der Mann namens Detroit steht auf. Er hat die Nase gestrichen voll. Sein Stuhl knarzt, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtet – weit über einen Meter achtzig –, sich umdreht und davongeht.

»Wo zum Teufel willst du hin?« Gavin schaut zu, wie sich der Schwarze auf den Ausgang zu bewegt. »HE! ICH REDE MIT DIR, DETROIT! WOHIN, GLAUBST DU, BEWEGST DU DEINEN ARSCH?«

Detroit dreht sich nicht einmal um, sondern winkt nur genervt ab und murmelt: »Ich hau ab … Wünsch euch viel Glück … Und das werdet ihr brauchen, wenn die Idioten hier das Sagen haben.«

»PFLANZ DEINEN SCHWARZEN NIGGERARSCH SOFORT WIEDER AUF EINEN STUHL, ODER ICH MACHE DICH AUF DER STELLE KALT!«

Detroit achtet nicht auf ihn.

Gavin zieht seinen Revolver.

Detroit geht weiter.

Die gesamte Versammlung holt tief Luft, als Gavin die Waffe hebt und auf den Hinterkopf von Detroit zielt.

Der Schuss saugt die Luft aus dem Raum. Er ist so laut, dass die Wände wackeln. Eine Frau schreit auf. Die Kugel gräbt sich in den Hinterkopf des Schwarzen. Detroit wird nach vorne geschleudert und landet auf dem Verkaufsautomaten. Brian, der direkt daneben steht, zuckt zusammen. Der Mechaniker prallt auf den kalten Stahl, wird zurückgeworfen und sackt dann zu Boden. Das Coca-Cola-Logo ist mit seinem Blut beschmiert. Rote Spritzer kleben an der Wand darüber und an der Decke.

Noch ehe die vielen Schreie verklingen und das Echo des Schusses verhallt, passieren mehrere Dinge auf einmal. Beinahe gleichzeitig springen drei Gemeindemitglieder auf – zwei Männer mittleren Alters sowie eine Frau um die dreißig – und rennen zum Ausgang. Brian sieht ihnen wie in einem Traum hinterher. Es rauscht noch immer in seinen Ohren, und seine Augen sind geblendet. Er nimmt kaum die absonderlich ruhige Stimme des Majors wahr, die jegliche Reue vermissen lässt und in der keinerlei Gefühl mitschwingt, als sie den zwei Gardisten Barker und Manning befiehlt, die Fliehenden zu schnappen. Außerdem sollen sie den Rest zusammentreiben, »der sich da draußen wie feige Kakerlaken verkriecht«, denn Gavin will, dass jeder, der noch Blut in den Adern hat, seine Worte hört. Die beiden Nationalgardisten rennen aus dem Gerichtssaal und lassen eine fassungslose, gelähmte Gruppe von fünfundzwanzig Einwohnern zurück, den Major und … Brian.

Für Brian dreht sich alles, als Gavin seine Waffe wieder ins Halfter steckt und einen triumphierenden Blick auf den leblosen Körper des Schwarzen wirft, als ob es sich um eine Trophäe handeln würde. Dann dreht er sich um und schlendert nach vorne zum Rednerpult zurück. Jetzt hat er die Aufmerksamkeit, die er wollte, und er scheint jede Sekunde davon zu genießen. Brian merkt kaum, wie er droht, an jedem Weichei ein Exempel zu statuieren, das auch nur daran denkt, das Leben der Einwohner von Woodbury in Gefahr zu bringen, indem er sich auf eigene Faust auf und davon machen will. Solche verdammten Besserwisser gehörten ausgerottet. Diese Zeiten sind nach Gavin etwas ganz Besonderes. Sie wurden schon in der Bibel beschrieben und prophezeit. Tatsache sei, dass sie es vielleicht mit dem Weltuntergang zu tun hätten. Jeder Einwohner von Woodbury müsse es endlich in seinen dicken Schädel bekommen, dass dies womöglich die letzte Schlacht zwischen Satan und der Menschheit sei. Und Gavin höchstpersönlich sei von nun an der gottverdammte Messias.

Die durchgedrehte Predigt dauert zwar kaum länger als eine Minute, doch in dieser kurzen Zeit durchläuft Brian Blake eine Metamorphose.

Während er wie versteinert neben dem alten Verkaufsautomaten steht und das Blut des erschossenen Mannes unter seine Schuhsohlen läuft, wird Brian Blake klar, dass er keine Chance in dieser Welt hat, wenn er seinem bisherigen Verhaltensmuster folgt: nämlich jedem Streit aus dem Weg gehen, Gewalt vermeiden, sich Gefahren entziehen. Scham erfüllt ihn und nimmt von ihm Besitz. Er erinnert sich an seine erste Begegnung mit den wandelnden Toten. Es war in Deering bei seinen Eltern, Millionen von Lichtjahre entfernt. Sie stolperten hinter dem Geräteschuppen hervor, und Brian versuchte, mit ihnen zu reden, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er warnte sie, sich von ihm fernzuhalten, und bewarf sie mit Steinen, ehe er zurück ins Haus flüchtete, die Fenster verbarrikadierte, sich in die Hose machte und generell wie ein Feigling aufführte, der er schon immer gewesen war und immer sein würde. Doch in diesem kurzen, fürchterlichen Augenblick, in dem Gavin seine gesammelten Weisheiten über die Einwohner von Woodbury ergießt, schießen ihm sämtliche Erinnerungen an seine Feigheit und Unentschlossenheit auf dem langen Weg ins westliche Georgia durch den Kopf. Hat er denn nichts gelernt? Zuerst versteckte er sich in der Abstellkammer im Haus in Wiltshire Estates, sein erster erlegter Zombie im Haus der Chalmers war eher so etwas wie Zufall, und ständig lag er seinem Bruder in den Ohren, nervte ihn mit seiner Schwäche und unnützen Ängstlichkeit. Plötzlich aber begreift Brian mit einem Schmerz, der sein Herz fast zerbersten lässt, dass er das alles nie und nimmer allein überleben wird. Jetzt, da Major Gavin die traumatisierten Menschen vom Rednerpult aus herumkommandiert, ihnen beinahe unmenschliche Pflichten aufbürdet und ihnen neue Regeln unterbreitet, spürt Brian, wie sich sein normales Verhalten gleich einem Schmetterling verabschiedet, der seinen Kokon verlässt. Zuerst wünscht er sich noch, dass Philip hier wäre, um ihn zu beschützen – wie er es seit Beginn der Plage getan hat. Wie würde Philip mit Gavin umgehen? Was würde er tun? Es dauert nicht lange, ehe sich diese Sehnsucht in einen akuten Schmerz um Philips Verlust verwandelt. Es quält ihn wie eine offene Wunde, und das scharfe Schwert der Trauer durchschneidet sein Innerstes. Er stützt sich an dem blutbesudelten Verkaufsautomaten ab und spürt, wie sich seine Seele von seinem Körper wie von einem urweltlichen Klumpen Erde löst, um den Mond zu formen. Ein Schwindelanfall droht, ihn zu Boden zu reißen, aber ehe Brian weiß, wie ihm geschieht, hat er seinen Körper verlassen. Sein Bewusstsein schwebt jetzt über seinem Leib. Er ist ein gespenstischer Zuschauer, der in diesem luftarmen, stinkenden, überfüllten Versammlungsraum im alten Gerichtsgebäude von Woodbury auf sich selbst hinabschaut und sich beobachtet.