Ihre Hände waren mit Blut verschmiert, ihr Herz raste und sie keuchte. Sie wischte den Dolch an Josahs Robe ab, so gut sie konnte, ihre Ohren lauschten auf Anzeichen, dass sie entdeckt worden war.
Alles blieb ruhig.
Mit einer Hand nahm sie die Kette kurz. Sie hielt sie immer noch in der schwächeren menschlichen Gestalt gefangen. Doch immerhin hielt kein Feind das Ende.
Es gab keinen Ort, an dem sie die Leichen verstecken konnte. Der Tempel war offen und luftig angelegt, mit sehr wenigen Nischen. Sehr bald schon würde man nach ihnen suchen und die Leichen auf der Rampe finden. Doch mit etwas Glück war Kirygosa dann schon lange weg.
Sie bewegte sich schnell und leise, die Füße in den Stiefeln machten fast kein Geräusch, als sie die Rampe hinuntereilte. Glücklicherweise war es nach Sonnenuntergang und so konnte sie wenigstens darauf hoffen, sich in den Schatten verbergen zu können.
Selbst nach Einbruch der Dunkelheit hielt der Vater des Zwielichts seine Schergen auf Trab. Fackeln steckten im Schnee und ihr orangerotes Licht vertrieb die lilablauen Schatten.
Kirygosa erreichte die unterste Ebene, presste sich gegen einen der Torbögen und sah sich um. Wenn sie sich doch nur in ihre normale Gestalt verwandeln und wegfliegen könnte! Aber sie hatten dafür gesorgt, dass das nicht ging. Sie fingerte an der Kette an ihrem Hals herum, die sie in dieser Gestalt gefangen hielt, und dachte nach.
Sie würde ein Reittier brauchen. Die Kultisten benutzten alle möglichen Arten als Packtiere – beispielsweise jene, die noch vor Kurzem den riesigen Wagen gezogen hatten, auf dem der tote Körper des Albtraums gelegen hatte, der nun nicht weit entfernt von diesem Ort döste, wo Kirygosa sich in den Schatten versteckt hielt. Doch es gab auch persönliche Reittiere. Ein paar der höherrangigen Mitglieder des Kults besaßen welche. Sie waren nicht gezwungen gewesen, wie die meisten anderen während des brutalen Trecks zum Tempel, zu Fuß durch Nordend zu laufen. Dort drüben waren gleich mehrere angebunden, eine gutes Stück vom Licht der Fackeln entfernt. Sie sah ein paar Wölfe, dick eingewickelte Pferde, Nachtsäbler und sogar ein paar Elche und einen oder zwei Wy vern. Einige würden keinem anderen als ihrem Reiter erlauben, sie zu besteigen.
Doch einige würden es.
Da gab es nur ein Haken: Um dorthin zu gelangen, musste sie an dem schlafenden Chromatus vorbeikommen.
Sie zögerte, der Schrecken kehrte wieder... wenn er aufwachte...
Dann wärst du nicht besser dran, als wenn du freiwillig zu ihm gegangen wärst. Doch wenn du an ihm vorbeikommst...
Es war der einzige Weg. Wenn sie nicht an ihm vorbeikam, hatte sie ja immer noch den Dolch. Sie würde ihn gegen sich selbst richten, statt sich solch einer Abnormität hinzugeben.
Sie zog die herabhängende Kette unter ihr Leinenhemd, packte den Dolch – eine erbärmliche Waffe gegen eine so große Kreatur – und trat langsam vor.
Sein Atem blies wie ein sanfter Wind, während die Luft aus den riesigen Lungen strömte. In ihrer Menschengestalt fühlte sich Kirygosa wie eine Maus vor einem Tiger. Dennoch glaubte sie, dass das Geräusch ihrer schneegedämpften Schritte und ihr pochendes Herz ihn aufwecken könnten. Er hatte sich nicht zusammengerollt, sondern lag mit den Köpfen ausgestreckt da. Sein Körper bewegte sich bei jedem Atemzug langsam auf und ab.
Kiry wollte losrennen, tat es aber nicht. Stattdessen bewegte sie sich behutsam Schritt für Schritt vorwärts, an der Länge der riesigen gesprenkelten Gestalt entlang. Er roch moschusartig und furchtbar, als könnte der Gestank des Todes, der so lange an ihm gehangen hatte, nicht einfach vertrieben werden, indem man ihm den Funken des Lebens gab. Plötzlich stieg Hass in ihr hinauf, dessen Hitze sie wärmte und der ihr neue Entschlossenheit verlieh.
Hier stand mehr auf dem Spiel als ihr Leben. Sie war lange genug die Gefangene des Vaters des Zwielichts gewesen, um einige Dinge zu erfahren – Dinge, von denen er nicht ahnte, dass sie sie wusste. Wenn sie zu Kalec gelangen und den blauen Drachen mit diesen Informationen versorgen konnte, würde ihnen das möglicherweise bei ihrem Angriff helfen.
Und sie würden sicherlich wieder angreifen. Kirygosa kannte ihr Volk. Und dieses Mal wollte sie bei ihm sein, nicht hilflos gefangen und schwach durch eine Kette um ihren Hals.
Chromatus regte sich.
Kirygosa hielt mitten im Gehen inne. Hatte er ihren plötzlichen Hassanfall irgendwie gespürt? Ihn vielleicht gerochen? Oder war sie zu sorglos gewesen und hatte einen Zweig im Schnee zertreten?
Er bewegte sich, hob den riesigen bronzenen Schädel, legte ihn zurück und stieß ein langes Seufzen aus. Der Schwanz schlug auf den Boden. Dann lag er wieder ruhig und das schwere Atmen deutete auf tiefen Schlaf hin.
Kirygosa schloss kurz erleichtert die Augen und setzte langsam und vorsichtig ihren Weg an dem schlafenden chromatischen Drachen vorbei fort auf die Stelle zu, wo die Reittiere angebunden waren. Die Wölfe und Nachtsäbler waren zu sehr an ihre Reiter gebunden, um sie zu stehlen. Die Elche waren nicht ausreichend gezähmt, um Reiter zu tragen, obwohl sie in diesem Land geboren waren und sie schnell transportiert hätten. Außerdem würden sie und die anderen Pflanzenfresser sicherlich nervös auf das Blut reagieren, das immer noch an ihr klebte. Die Wyvern, die die Horde gern zum Fliegen benutzte, waren überraschend ruhig, und weil es nur so wenige davon hier am Tempel gab, duldeten sie jeden auf ihren Rücken.
Jeden, der wusste, wie man mit ihnen umging. Kirygosa drängte erneut die Tränen zurück und sagte sich selbst, welches Glück sie hatte, dass gleich zwei dieser Tiere verfügbar waren.
Sie näherte sich dem, das sie erwählt hatte, und murmelte sanft vor sich hin. Der löwenartige Kopf wandte sich ihr zu, die Augen blitzten vor Langeweile, während die fledermausartigen Flügel sich streckten und spannten. Der Wyvern trug keinen Sattel und sie durfte keine Zeit verschwenden, einen zu suchen. In jedem Augenblick konnte jemand Alarm schlagen und sie musste bis dahin eine möglichst große Distanz zwischen sich und den Tempel bringen.
Kirygosa hatte dabei zugesehen, wie Wyvern geritten wurden, aber war noch nie selbst auf einem gesessen. Vorsichtig schwang sie ein Bein über das große Tier. Es grunzte, wandte sich zu ihr um, spürte offensichtlich, dass sie keine geübte Reiterin war.
Kiry streichelte es in einer, wie sie hoffte, besänftigenden Art, packte die Zügel und dirigierte den Wyvern himmelwärts. Gehorsam und gut trainiert sprang er in die Luft – sie keuchte, setzte sich zurecht und klammerte sich fest. Er bewegte sich schnell und gleichmäßig, schwebte, erwartete ihre Befehle. Sie nahm die Zügel, wandte den Wyvern nach Westen Richtung Kaltarra und dem Nexus und hoffte verzweifelt, dass sich dort Kalecgos und ihr Schwarm immer noch sammelten.
Sie beugte sich dicht an das Ohr des Wyvern, nutzte die schwache Magie der Überredung, die trotz der Kette um ihren Hals möglich war, und beruhigte sich selbst.
„Wir beide wissen, wie man fliegt“, flüsterte sie. „Bring mir bei, wie man ein Windreiter wird, mein Freund.“
Vielleicht war es nur Einbildung. Doch sie glaubte, sie hörte ein zustimmendes Bellen.
18
Thrall hatte nicht gedacht, dass er zu ihr zurückkehren würde. Doch während er auf dem Rücken von Narygos saß, spürte Thrall, dass er nun eine völlig andere Person war als beim letzten Mal, als er bei der Lebensbinderin gewesen war.
Der Gedanke an Aggra brannte warm in seinem Herzen, ein stilles, von Asche genährtes Feuer, das sowohl Mut spendete als auch beruhigte. Er hatte dabei zugesehen, wie die blauen Drachen ihre wahre geistige Tiefe wiederentdeckten, ihre eigenen Herzen und ihre Gefühle. Er hatte sogar eine wichtige Rolle dabei gespielt. Sie hatten den Aspekt erhalten, den sie verdienten: einen, der Stärke, Mitgefühl und Weisheit verkörperte, der wirklich nur die besten Interessen des Schwarms im Sinn hatte.