„Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie hier“, sagte Thrall.
Der Drache stieß sanft hinab und flog auf den Steingipfel zu. Beim Näherkommen erkannte Thrall, dass Alexstrasza immer noch hier war. Sie hatte die Beine an die Brust gezogen und bot ein Bild des Schmerzes. Er fragte sich besorgt, ob sie sich seit seinem letzten Besuch überhaupt bewegt hatte.
„Setzt mich ein Stück entfernt ab“, sagte Thrall. „Ich glaube nicht, dass sie irgendjemanden sehen will. Es wird vielleicht leichter, wenn ich allein zu ihr gehe.“
„Wie Ihr wollt“, sagte Narygos, landete anmutig und kauerte sich hin, damit Thrall leichter absteigen konnte.
Thrall wandte sich um und sah ihn an. „Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich hierher getragen habt“, sagte er. „Doch... vielleicht solltet Ihr nicht auf mich warten.“
Narygos neigte den Kopf. „Wenn Ihr es nicht schafft, sie zu überzeugen...“
„Wenn ich das nicht schaffe“, sagte Thrall mit stiller Ernsthaftigkeit, „dann gibt es kaum einen Grund für mich, zurückzukehren.“
Narygos nickte und verstand. „Viel Glück dann, zu unserem aller Besten.“ Er gab Thrall einen freundlichen, liebevollen Stupser, dann sammelte er sich und schoss in den Himmel. Thrall beobachtete, wie er in der Ferne verschwand, dann ging er zu der Lebensbinderin.
Sie hörte, wie er sich aufs Neue näherte.
Ihre Stimme klang rau. „Ihr seid entweder der tapferste oder der dümmste Orc, da Ihr es wagt, ein zweites Mal zu mir zu kommen“, sagte sie.
Er lächelte ein wenig. „Das haben andere auch schon gesagt, Mylady“, antwortete er.
„Andere“, sagte sie, hob den Kopf und ihr Blick durchdrang ihn mit hoher Intensität, „sind nicht ich.“
Trotz allem, was er in seinem Leben gesehen und bekämpft hatte, fühlte Thrall, wie er bei der leisen Drohung in ihrer Stimme erbebte. Er wusste, dass sie recht hatte. Würde ihr einfallen, ihn töten zu wollen, hätte er keine Chance.
„Seid Ihr zum Foltern hier?“, fragte sie.
Thrall war sich nicht sicher, ob sie meinte, dass er sie folterte oder sie ihn. Vielleicht beides. „Ich hoffe, alles zu einem Ende zu bringen oder Euch zumindest Linderung zu verschaffen, Mylady“, entgegnete er ruhig.
Die Wut in ihrem Blick hielt sich für einen weiteren Moment, dann sah sie weg und erinnerte ihn erneut mehr an ein trauriges Kind als an einen der mächtigsten Aspekte.
„Das tut nur der Tod – und vielleicht nicht einmal der“, sagte Alexstrasza und ihre Stimme brach.
„Ich weiß nicht genug, um Ja oder Nein zu sagen“, meinte Thrall. „Doch ich muss es versuchen.“
Sie seufzte.
Er sah sie sich genauer an. Sie war dünner als beim letzten Mal. Ihre Wangenknochen, bereits zuvor knochig, schienen ihre Haut beinahe zu durchstechen. Um die Augen herum lagen dunkle Schatten und Alexstrasza wirkte, als könne ein kräftiger Wind sie wegblasen.
Thrall wusste es besser.
Er setzte sich neben sie auf die Steine.
Sie regte sich nicht.
„Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben“, fuhr er fort, „habe ich Euch gebeten, mit mir zum Nexus zu kommen. Um mit den blauen Drachen zu reden. Ihnen zu helfen.“
„Das habe ich nicht vergessen. Auch meine Antwort habe ich nicht vergessen.“
Das ist egal. Alles. Es ist egal, ob alles miteinander in Verbindung steht. Es ist egal, wie lange das schon so läuft. Es ist auch egal, ob wir es aufhalten können.
Die Kinder sind tot. Korialstrasz ist tot. Ich bin praktisch auch schon tot, lange wird es nicht mehr dauern. Es gibt keine Hoffnung mehr. Nichts ist mehr da. Nichts ist wichtig.
„Ich habe es auch nicht vergessen“, sagte Thrall. „Aber andere wissen es nicht oder glauben nicht, dass es egal ist, und machen stur weiter. So wie die blauen Drachen. Sie haben einen neuen Aspekt gewählt: Kalecgos. Und sie haben einen neuen Feind: einen chromatischen Drachen namens Chromatus.“
Ein schwaches überraschtes Flackern überzog ihr Gesicht bei der Erwähnung von Kalecgos, aber ihre Augen wurden beim Namen Chromatus wieder trüb.
„Für jeden Sieg eine Niederlage“, murmelte sie.
„Ich bin während der Schlacht gefallen“, berichtete Thrall knapp. „Sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fiel von Kalecs Rücken und landete im Schnee. Ich hätte mich beinahe Tod und Verzweiflung ergeben. Doch etwas geschah. Etwas, was dafür sorgte, dass ich meine gefrorenen Glieder bewegte, mich aus dem Schnee arbeitete – und einen Überraschungsangriff von einem sehr alten Feind überlebte.“
Sie rührte sich nicht. Sie schien ihn komplett zu ignorieren. Aber immerhin war sie nicht in Wut verfallen und hatte nicht versucht, ihn zu töten, wie beim letzten Mal. Vielleicht hörte sie doch zu.
Ihr Ahnen, ich bete, dass ich das Richtige tue. Ich handele mit dem Herzen und das ist das Beste, was ich tun kann.
Er streckte eine Hand aus. Sie wandte den Kopf und blickte ihn ausdruckslos an. Er bewegte sich auf sie zu und bedeutete ihr, seine Hand zu ergreifen. Sie drehte langsam den Kopf weg und starrte zum Horizont.
Sanft langte Thrall nach unten und nahm ihre Hand. Ihre Finger waren schlaff. Er legte seine starke grüne Hand sorgfältig darum.
„Ich hatte eine Vision“, sagte er mit sanfter Stimme, fast als versuche er, ein scheues Waldtier nicht zu erschrecken. „Eigentlich zwei. Es ist... solch ein Glück, damit gesegnet zu sein. Besonders, wenn man eine Vision mit jemand anders teilen soll... das war eine unerwartete Ehre.“ Die Worte waren in aller Bescheidenheit gesprochen. Auch wenn er wusste, dass seine Kräfte wuchsen, seine Verbindungen mit den Elementen sich vertieften, war er immer noch geehrt von der Großmut, die ihm gewährt wurde. „Eine war für mich. Und diese... soll ich mit Euch teilen.“
Er schloss die Augen.
Der Welpe schlüpfte aus dem Ei.
Es war eine nüchterne Umgebung für eine Geburt, ein behelfsmäßiges Labor unter einem großen Zelt. Draußen tobte der Sturm, als der kleine Welpe gegen die Schale ankämpfte.
Viele waren da, um seine Ankunft mitzuerleben. Einer schien ein Mensch zu sein, eingewickelt in einen Kapuzenumhang, der sein Gesicht verbarg. Die anderen trugen Roben, die sie sofort als Mitglieder des Schattenhammerkults auswiesen. Sie alle wirkten glücklich, ihre Blicke auf das schlüpfende Kind gerichtet.
Neben dem Menschen stand eine attraktive Menschenfrau mit blauschwarzem Haar, die eine dünne Kette um den Hals trug, die in seiner Hand endete, im Gegensatz zu den anderen beobachtete sie die Szenerie mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck, eine Hand ruhte auf ihrem Bauch, die andere war zur Faust geballt.
„Kirygosa!“
Alexstrasza flüsterte den Namen. Ihre Stimme drang nur an Thralls Ohren.
Die Vision entfaltete sich exakt so, wie es beim ersten Mal der Fall gewesen war. Er spürte ein Stechen, als dieser Name erklang. Das war also mit Arygos’ Schwester geschehen, die verschwunden war. Verschwunden, aber nicht tot, noch nicht. Ihr Gesicht verriet ihm alles, was er wissen musste.
Das kleine Wesen drückte und schob und ein Teil der Schale brach heraus. Sein Maul öffnete sich und es schnappte nach Luft.
Es war hässlich.
Es war blau, schwarz und lila, mit grotesken bronzefarbenen, roten und grünen Klecksen hier und dort. Eins seiner Vorderbeine endete in einem Stumpf. Es hatte nur ein zerfressenes Auge, mit dem es sein Publikum musterte.
Kirygosa stieß ein Heulen aus, dann wandte sie sich ab.
„Nein, nein, meine Liebe, wende deine Augen nicht ab. Sieh, was wir aus deinem blauen Kind gemacht haben“, freute sich der Mensch hämisch. Er streckte die behandschuhte Hand aus und schob den chromatischen Welpen auf seine Handfläche.
Das Ding lag schlapp da, doch die kleine Brust hob sich. Einer seiner Flügel war an einer Seite eingedrückt.
Der Mann in dem Umhang ging ein paar Schritte weg und setzte es auf die Erde. „Nun, mein Kleiner, lass uns sehen, ob du für uns größer werden kannst.“
Einer der Kultisten trat vor und verneigte sich unterwürfig. Der Mensch streckte die Hände aus. In einer lag ein halb verdecktes Artefakt, das vor violetter Energie nur so leuchtete. Die Finger der anderen Hand bewegten sich beim Zaubern. Er sprach eine Beschwörung und ein Strahl weißer arkaner Energie schoss aus dem Artefakt hervor. Er wickelte sich um den Welpen und begann die goldene Lebensenergie aus dem kleinen Drachen herauszusaugen. Er kreischte vor Schmerz.
„Nein!“, schrie Kirygosa und stürzte vor. Der Mann zog fest an der Kette. Kirygosa fiel auf die Knie, keuchte vor Schmerz.
Der Welpe wuchs. Er öffnete das Maul und stieß einen kleinen quiekenden Schrei aus, während sein Körper zuckte. Thrall konnte fast die Knochen knacken hören und sah, wie die Haut sich spannte, während der Magier ihm Lebensenergie entzog und der Welpe schnell alterte. Plötzlich wurde das Quieken zu einem dunkleren Krächzen und dann zu einem spitzen Schrei. Ein Flügel schlug wild, der andere, der immer noch auf einer Seite eingedrückt war, zitterte nur.
Der chromatische Welpe brach zusammen.
Der Mensch seufzte. „Es war fast schon Drachengröße“, sagte er. Er trat vor und berührte den Leichnam mit dem Zeh. „Schon besser, Gahurg. Schon besser. Das Blut des Aspekts in ihr scheint die Kinder stärker zu machen als die anderen. Sie sind offensichtlich eher in der Lage, die Modifikationen zu ertragen. Aber es ist immer noch nicht perfekt. Nimm das weg. Präpariere es, lerne davon und mach es beim nächsten Mal eben besser.“
„Wie Ihr wünscht, Vater des Zwielichts“, sagte Gahurg. Vier andere Kultisten traten vor und trugen den chromatischen Drachen fort.
„Was machst du mit meinen Kindern?“ Kirygosas Stimme hatte tief begonnen, tief in ihrer Brust, und baute sich zu einem wilden Brüllen auf. Sie ignorierte den Schmerz, von dem sie gewusst haben musste, dass er kommen würde, und warf sich auf den Mann, den man Vater des Zwielichts nannte.