Und tatsächlich, als sie zurücktrat und ihre Arme zum Himmel hob, trug ihr Gesicht den Ausdruck gerechtfertigter Wut. Es gab noch viel zu betrauern und sie wusste es.
Doch nicht jetzt. Jetzt nutzte die Lebensbinderin ihren Schmerz, um ihre Handlungen zu befeuern, nicht die Tränen. Und Thrall spürte fast einen Hauch Mitleid für jene, die ihre Hitze der Wut zu spüren bekommen würden.
Fast.
Wie er es schon einmal bei ihr erlebt hatte, beobachtete Thrall erneut, wie sie aufwärtsschoss und sich von einem schlanken, elfengleichen Mädchen in den mächtigsten Aspekt verwandelte – wohl das mächtigste Wesen der Welt. Diesmal wusste er, dass er von ihr in dieser Gestalt nichts befürchten musste.
Sie sah auf ihn herab, ihre Augen blickten freundlich, und dann landete die Lebensbinderin, damit der Orc auf ihren breiten Rücken klettern konnte.
„Wir gehen zu meinen Brüdern und Schwestern, wenn Ihr mitkommen wollt“, sagte sie ruhig.
„Ich bin gern behilflich“, erwiderte Thrall, erneut voll Ehrfurcht und eingeschüchtert von der reinen Herrlichkeit des roten Drachen. Er kletterte vorsichtig und respektvoll auf ihren Rücken und setzte sich an den Rand des Halses. „Ich glaube, dass die blauen Drachen sich nach ihrer Niederlage zum Nexus zurückgezogen haben.“
„Vielleicht“, sagte sie. „Wir werden sie entweder dort finden oder Kalec hat sich mit anderen Schwärmen vereinigt und sie sammeln sich am Wyrmruhtempel.“
„Die Zwielichtdrachen werden sie bemerken“, dachte Thrall laut.
„Ja“, stimmte Alexstrasza zu, sammelte sich kurz und schoss in die Luft. „Das werden sie. Was sollen wir tun?“
„Das Element der Überraschung ist fort“, erwiderte Thrall.
„Das brauchen wir auch nicht mehr“, sagte Alexstrasza. Ihre Stimme war stark und ruhig, und Thrall entspannte sich, während sie sprach. „Unser Erfolg oder Versagen hängt von etwas ab, was wichtiger ist als militärische Strategien.“ Sie wandte den Hals und sah ihn an, während ihre Flügel mächtig und rhythmisch in der Luft schlugen. „Es ist an der Zeit für die Drachenschwärme Azeroths, ihre Streitigkeiten beiseitezulegen und sich zu vereinen. Ansonsten fürchte ich, dass alles verloren ist.“
19
Alexstrasza hatte recht gehabt. Als sie und Thrall nur noch ein paar Meilen vom Wyrmruhtempel entfernt waren, bemerkten sie blaue und grüne Drachen in der Luft und auf dem Boden.
Sie wurden sofort entdeckt. Mehrere Artgenossen flogen ihr entgegen und waren ziemlich euphorisch.
„Lebensbinderin!“, rief Narygos glücklich. „Dunkel ist die Stunde und dunkel sind unsere Herzen, aber du bringst Licht für beides. Thrall – danke für das, was Ihr getan habt.“
„Freund Narygos“, erwiderte Alexstrasza warm. „Ich sehe meine Schwester Ysera und den neuen Aspekt Kalecgos und ihre Schwärme. Mein eigener roter Schwarm wird kommen, sobald er weiß, dass ich hier bin.“
„Ich werde ihn sofort aufsuchen, Lebensbinderin“, sagte einer der grünen Drachen. Thrall fragte sich, wie es sein konnte, dass die grünen Drachen wussten, wo die roten waren. Vielleicht wusste es Ysera und hatte es ihnen gesagt. Es gab noch so viel, was er über die Drachen lernen musste.
„Haben wir nichts von Nozdormu gehört?“, fragte Alexstrasza.
Narygos und die anderen ließen sich zurückfallen, flogen über und unter ihr, begleiteten und bewachten sie, während sie zum Versammlungsplatz flog.
„Noch nicht“, antwortete Narygos mit einem schnellen Blick zu Thrall. „Wir haben nichts von ihm gehört. Habt Ihr?“
„Ich wurde nicht kontaktiert“, antwortete Thrall. „Ich kann nur annehmen, dass er immer noch auf der Suche ist und lernt.“
„Wissen ist Macht“, stimmte ihm ein großer grüner Drache zu. „Aber es wird uns nichts helfen, wenn er etwas Nützliches erfährt und Chromatus uns bis dahin alle getötet hat.“
„Schweig, Rothos“, gebot Alexstrasza ernst. „Es ist nicht der Fehler des Orcs, wenn der Zeitlose nicht hier ist. Wir... tun, was wir tun müssen.“ Den letzten Satz sprach sie mit süßer, trauriger Stimme und Thrall wusste, dass sie an Korialstrasz dachte. Er hatte getan, was er tun musste, und einen schrecklichen Preis dafür bezahlt.
Rothos warf Thrall einen entschuldigenden Blick zu. „Es tut mir leid, mein Freund, aber Ihr wisst, dass wir kämpfen müssen. Ich hätte Nozdormu und seine Bronzedrachen gern dabei, wenn es so weit ist.“
„Kein Problem, ich stimme Euch zu“, sagte Thrall ernst.
Sie waren fast am Versammlungsort angekommen. „Bitte... flieg vor und versammle alle anderen“, bat Alexstrasza Rothos. „Ich habe... einige Informationen für sie.“
„Informationen über Chromatus?“, fragte Rothos hoffnungsvoll.
Alexstrasza schüttelte den Kopf. „Nein. Doch ich hoffe, dass sie trotzdem Mut machen und neue Hoffnung, und das sind wahrlich gute Waffen.“
Ein paar Augenblicke später landeten sie. Melodischer Drachenjubel erfüllte die bitterkalte Luft. Thrall lächelte, als er von Alexstraszas Rücken in den hüfthohen Schnee kletterte.
„Thrall!“
Er wandte sich um und bemerkte Kalecgos, der auf ihn herabsah. Der große Aspekt streckte die Tatze aus und nahm Thrall darin sehr sanft auf. Thrall spürte keinerlei Sorge, nur die Freude, seinen Freund wiederzusehen.
„Ich muss damit aufhören, Euch zu unterschätzen“, sagte Kalec und brachte den Orc näher an sein Gesicht heran. „Ihr habt getan, was Ihr versprochen hattet. Ihr habt uns unsere Lebensbinderin zurückgebracht – im wahrsten Sinne des Wortes“, fügte er hinzu und blickte zu Alexstrasza, die sehr mütterlich sowohl grüne wie auch blaue Drachen mit der Schnauze anstupste, die zu ihr eilten. „Ich weiß nicht, welche Magie Ihr benutzt habt, aber ich danke Euch dafür.“
„Nur die Magie des Herzens“, sagte Thrall. „Sie wird Euch sagen, was ich erfahren und mit ihr geteilt habe. Alle werden es erfahren.“
Ysera drehte den Kopf beim Klang von Thralls Stimme und trat zu ihm. Sie senkte den Kopf auf dem langen biegsamen Hals in einer Geste des Respekts. „Ihr wart ein Teil meiner Träume und einer der Besten“, sagte sie. „Ihr habt so viel getan, um uns zu helfen. Ich trauere um Desharin, doch ich bin froh, dass Ihr entkommen konntet.“
„Wisset, dass ich, wenn ich ihn hätte retten können, es getan hätte.“
Sie nickte. „Die Stunde des Zwielichts erwartet uns“, sagte sie. Sie hob den Kopf und sah sich um. Ihre regenbogenfarbenen Augen leuchteten vor Freude. „Ich sehe grüne und blaue Drachen versammelt. Das ist gut, Sohn von Durotan. Aber... ah, unsere roten Brüder und Schwestern sind gekommen, um sich uns anzuschließen!“
Thrall drehte sich um und folgte ihrem Blick. Kurz darauf konnte er die eintreffenden Riesen sehen und hören. Es waren Dutzende, die sich dem Versammlungsort näherten. Thrall sah sich verwundert um. Drei Drachenaspekte und ihre Schwärme waren jetzt hier versammelt. Er erinnerte sich an den Kampf gegen die Zwielichtdrachen und spürte, wie Hoffnung in ihm keimte. Diesmal waren hier dreimal mehr Drachen versammelt, als es in dem Kampf damals gewesen waren, und sie hatten die Lebensbinderin, die sie anführte...
Alexstrasza schoss in die Luft. Die roten Drachen sammelten sich und flogen um sie herum, stupsten sie ehrfürchtig und fielen respektvoll wieder zurück. Es lag eine Freude in ihr, die er zuvor noch nicht gesehen hatte. Freude, mit ihrem Schwarm zusammen zu sein, nach so viel Qual und Bitterkeit. Nach ein paar Lufttänzchen anlässlich dieses schönen Wiedersehens landete Alexstrasza leichtfüßig auf einer der hervorstehenden Felsspitzen, sodass jeder sie sehen konnte.
Die Drachen wurden still und erwarteten sehnsüchtig die Worte der Drachenkönigin. Sie sah sie alle einen Moment lang an, ihr Kopf wanderte langsam über die Menge hinweg.