Ihr Aspekt, Nozdormu der Zeitlose, war schon lange nicht mehr gesehen worden. Die Zeitwege wurden von einer mysteriösen Gruppe angegriffen, die sich selbst der ewige Drachenschwarm nannte. Deren Motive waren unklar, aber sie konzentrierten sich darauf, den wahren Zeitweg zu zerstören. Alexstrasza vermutete, dass Nozdormu und die anderen seines Schwarms mehr als genug damit zu tun hatten.
Als sie zur Landung ansetzte, erklang eine scharfe, wütende Stimme.
„Ein Aspekt!“, rief jemand.
Alexstrasza wusste, wer das war. Es war Arygos, ein energisches Mitglied des blauen Schwarms und Sohn von Malygos und seiner Lieblingsgefährtin Saragosa. Während des Nexuskriegs hatte sich Arygos offen auf die Seite seines Vaters geschlagen und hatte ihn stets unterstützt. Es schien, dass er auch jetzt noch der Fürsprecher seines Vaters war.
„Der rote Schwarm und eine Gruppe Magier, nein, Drachen, entschieden, sie sollten einen Aspekt töten. Einer von nur fünf – vier, wenn wir Todesschwinge den Zerstörer nicht mitzählen. Wie konntest du dich nur gegen einen der Deinen stellen? Wer ist als Nächstes dran? Die sanfte Ysera? Der stoische Nozdormu? Wenn man jemanden dafür verantwortlich machen kann, dann ist es Alexstrasza. Die sogenannte Lebensbinderin scheint keine Skrupel zu kennen, jemanden zu töten, wenn es ihr passt.“
Mehrere Köpfe hatten aufgesehen, als Arygos sprach, und niemand sagte etwas, als die Lebensbinderin eintraf. Alexstrasza landete anmutig neben dem jüngeren Drachen und sagte ruhig: „Meine Aufgabe ist es, die Unverletzlichkeit des Lebens zu schützen. Malygos’ Entscheidung und die daraus resultierenden Aktionen bedrohten Leben. Ich trauere um deinen Vater, Arygos. Die Entscheidung war schmerzlich. Doch was er vorhatte, war für zu viele zu gefährlich und hätte die Welt vernichten können.“
Arygos trat einen schnellen Schritt zurück, dann verengten sich seine Augen und er hob den großen blauen Kopf.
„Auch wenn ich berücksichtige, was wir heute wissen, finde ich immer noch nicht, dass die Motive meines Vaters durch und durch falsch waren. Die Verwendung, oder sollte ich sagen: Die unsachgemäße, viel zu häufige Verwendung von Magie war tatsächlich seine große Sorge. Wenn du seine Handlungen missbilligt hast, und vielleicht war er ja wirklich fehlgeleitet, hätte es doch sicher andere Wege gegeben, Malygos entgegenzutreten!“
„Du hast es selbst gesagt – er war ein Aspekt“, sagte Alexstrasza. „Und er konnte sich nicht mal hinter der Entschuldigung verstecken, er wäre dem Wahnsinn verfallen. Wenn du dich so um seine Sicherheit gesorgt hast, Arygos, dann hättest du uns dabei helfen können, einen Weg zu finden, um ihn zu bändigen.“
„Lebensbinderin“, erklang eine Stimme, jung, männlich und so ruhig, wie Arygos aufgewühlt war. Ein weiterer blauer Drache trat vor, neigte den Kopf respektvoll, doch nicht unterwürfig. „Arygos tat nur, was er zu der Zeit für richtig hielt, so wie viele andere Mitglieder des blauen Schwarms auch. Ich bin mir sicher, er will wie jeder andere unseren Schwarm wieder aufbauen und die Verantwortung akzeptieren, wie wir alle es müssen“, sagte Kalecgos.
Alexstrasza freute sich, dass Kalecgos hier war. Das war der junge blaue Drache, den ihr Gefährte so mochte. Derjenige, von dem er gesagt hatte, er könne „mit Sinn und Verstand reden“. Was er, wie sie vermutete, bereits tat.
„Ich kann für mich selbst reden“, knurrte Arygos und warf Kalecgos einen irritierten Blick zu.
Viele der blauen Drachen glaubten, dass die anderen Schwärme sie ungerecht behandelten. Nach Alexstraszas Meinung war Arygos eitler veranlagt als die meisten Mitglieder seines Schwarms. Sie vermutete, dass das mit der persönlichen Geschichte des jungen blauen Drachen zu tun hatte – eine, in der es darum ging, verlassen worden zu sein. Nicht zum ersten Mal beklagte Alexstrasza den Verlust von Arygos’ Gelegeschwester Kirygosa. Ihr Gefährte war getötet worden und sie war nach dem Krieg verschwunden. Deshalb nahm man an, dass die junge Blaue, schwanger mit ihren ersten Eiern, wohl im Kampf gefallen war. Weil sie es stets gewagt hatte, sich gegen Arygos zu stellen, hatte sie sich auch mit den wenigen Blauen zusammengetan, die sich gegen Malygos gewandt hatten. Darin lag eine besondere Tragik. Denn es war sehr wahrscheinlich, dass sie von einem Mitglied ihres eigenen Schwarms getötet worden war.
„Ich sehe ein, dass der Plan meines verstorbenen Vaters negative Konsequenzen hatte“, fuhr Arygos mit offensichtlichem Widerwillen fort.
„Wir alle spüren diese Konsequenzen noch“, sagte Afrasastrasz, der lange ein besonderer Unterstützer von Alexstrasza gewesen war. „Das tut die ganze Welt. Und das ist etwas, was direkt auf die Entscheidungen des blauen Drachenaspekts zurückgeht, den du und die anderen hier unterstützt habt. Ihr müsst schon etwas mehr tun als zuzugeben, dass Ihr fehlgeleitet wart, junger Arygos. Ihr müsst es richtig machen.“
Arygos’ Augen verengten sich. „Es richtig machen? Wirst d u es richtig machen, Afrasastrasz? Oder du, Alexstrasza? Du hast mir meinen Vater genommen. Du hast einen ganzen Schwarm ohne Aspekt zurückgelassen. Bringst du ihn uns zurück?“ Seine Stimme und sein ganzer Körper strahlten Wut, Gekränktheit und einen echten, tiefen Schmerz aus.
„Arygos!“, schnappte Kalec. „Malygos war nicht verrückt, als er sich für den Krieg entschied. Er hätte jederzeit aufhören können. Doch das tat er nicht.“
„Ich habe ihn nicht gern getötet, Arygos“, sagte Alexstrasza. „Mein Herz schmerzt noch immer von dem Verlust. Wir haben alle so viel verloren – alle Schwärme, all die Aspekte. Jetzt ist die Zeit der Heilung. Wir sollten uns einander zuwenden, statt aufeinander loszugehen.“
„Ja“, sagte eine leise Stimme, die dennoch weit trug und den Streit augenblicklich beendete. „Wir sollten uns einander zuwenden, und zwar schon bald. Die Stunde des Zwielichts naht und wir müssen bereit sein.“
Die Stimme war sanft und melodisch und der grüne Drache trat fast schüchtern vor. Die anderen Drachen zogen sich zurück, um ihm Platz zu machen. Er bewegte sich nicht mit starken, sicheren Schritten wie die meisten seiner Art, sondern fast tanzend. Seine Augen, die seit Äonen geschlossen gewesen waren, standen nun weit offen, regenbogenfarben, und er bewegte den Kopf, wie um bereit zu sein, jeden Moment etwas Neues zu sehen.
„Was ist das für eine Stunde des Zwielichts, von der du da sprichst, Ysera?“, fragte Alexstrasza ihre Schwester. Nach Jahrtausenden, die sie im Smaragdgrünen Traum verbracht hatte, war Ysera aufgewacht. Alexstrasza und viele andere waren nicht sicher, wie viel von ihr tatsächlich zurückgekommen war. Ysera schien immer noch nicht in dieser Welt verankert zu sein. Sie trieb davon gelöst dahin. Selbst ihr eigener Schwarm, deren Mitglieder wie ihr Aspekt fast immer im Smaragdgrünen Traum hausten und Wächter der Natur waren, schien nicht zu wissen, wie er auf sie reagieren sollte. Yseras Rückkehr in die wache Welt war alles andere als glatt gelaufen, um es vorsichtig auszudrücken.
„Ist es etwas, was du in deinen Träumen gesehen hast?“, drängte Alexstrasza.
„Ich habe alles im Traum gesehen“, antwortete Ysera schlicht.
„Das könnte schon wahr sein, doch es hilft uns nicht“, sagte Arygos und ergriff die Ablenkung, die der Aspekt des grünen Schwarms ihm verschafft hatte. „Du bist nicht mehr die Träumerin, Ysera, obwohl du sicherlich ein Aspekt bist. Vielleicht hast du alles im Traum gesehen und sahst Dinge, die gar nicht existieren.“
„Oh, das ist wahr“, stimmte Ysera bereitwillig zu.
Innerlich zuckte Alexstrasza zusammen. Nicht einmal sie wusste, was sie von Ysera der Erwachten halten sollte. Ja, sie war gesund – doch sie hatte eindeutig Schwierigkeiten, die Dinge zusammenzubringen. Sie würde heute keine große Hilfe sein.