Seine Kleider waren durchnässt und klebten an ihm, ihm drohte ein unrühmlicher Tod durch Erfrieren, während er sich den Weg durch den Schnee bahnte, über Felsen, an dem gefallenen Leichnam vorbei zu einem kleinen Überhang. Die kleine Kugel, die er benutzte, um mit Todesschwinge Kontakt aufzunehmen, war noch unversehrt. Es brauchte schon mehr als einen solchen Sturz, um das Artefakt zu beschädigen. Mit tauben Fingern holte er es aus dem Beutel an seiner Hüfte und betrachtete es einen Moment lang. Er überlegte, ob er einfach versuchen sollte zu verschwinden – aber wie? Er war allein, mitten im Nirgendwo, mit roten, grünen, bronzenen und blauen Drachen überall, wohin das Auge blickte – ganz zu schweigen von vier Aspekten, die es irgendwie geschafft hatten, mehr Kraft zu vereinen, als er sich je hatte vorstellen können.
Nein. Todesschwinge hatte viel Zeit und Mühe investiert, den Vater des Zwielichts zu erschaffen. Er würde ihn nicht aus einer Laune heraus vernichten. Chromatus lebte nicht mehr – aber er war auch noch nicht tot. Das musste reichen.
Unter den erbärmlichen Schutz gekauert, legte der Vater des Zwielichts die Kugel in den Schnee und kniete davor. Er zitterte stark. Die Kugel war klar, mit der tintigen Schwärze, in der nur das orangegelbe Leuchten eines Auges zu sehen war. Eine Sekunde später knackte die Kugel auf. Dichter schwarzer Rauch strömte aus ihr heraus und erfüllte den begrenzten Raum. Das Bild des monströsen schwarzen Drachen erschien. Und der Schrecken, den es hervorrief, war in keiner Weise geringer.
„Sie sind nicht vernichtet“, sagte Todesschwinge ohne Einleitung. „Das hätte ich gespürt.“
„Ich weiß, M-Meister“, stammelte der Vater des Zwielichts. „Sie haben... etwas getan und sie haben deinen Champion g-g-geschlagen. Er liegt leblos dort, ist aber nicht tot.“
Es war ein schrecklicher Moment. „Also völliges Versagen.“
Die kalten Worte waren schlimmer als ein Wutausbruch. Der Vater des Zwielichts erschauderte. „Nein, Chromatus kann nicht getötet werden! Er ist geschlagen, aber nur für den Moment.“
Er hörte das Geräusch von Flügeln über ihm und blickte auf. Seine Augen weiteten sich und er kroch tiefer in den Schutz. „Mylord, ich werde weiterhin Eure Arbeit in dieser Welt tun. Aber ich werde es nicht mehr sehr viel länger können. Sie suchen mich und – und es scheint, als ob der Zwielichtdrachenschwarm flieht...“ Er versuchte, die Panik aus seiner Stimme zu verbannen.
„Du bist eine herbe Enttäuschung“, dröhnte Todesschwinge. „Wir hatten den Sieg in Griffweite. Und dennoch leben die Aspekte noch... Chromatus ist... beschädigt... und der Kult hat einen ernsthaften Rückschlag erlitten. Warum sollte ich dich nicht unseren Feinden überlassen?“
„Ich – ich weiß immer noch viel Nützliches!“, schrie der Vater des Zwielichts, packte die Kugel, als würde er die Hand seines Herrn ergreifen. „Ich habe noch viele, die mir vertrauen – Ihr wisst das. Lasst mich zu ihnen zurückkehren. Lasst sie mich zu Euch führen. Der Kult ist über die ganze Welt verteilt – selbst wenn die Drachenschwärme ihn hier vernichten, werden sie ihn doch nicht völlig auslöschen können! Überlegt nur, wie viel Zeit Ihr benötigen würdet, um mich durch jemand Neues zu ersetzen!“
„Menschen sind erbärmlich gierig und leicht zu beeinflussen“, knurrte Todesschwinge. „Und dennoch ergibt es einen Sinn, was du sagst. Wir haben bereits genug Zeit verloren. Ich kann keine weiteren Verzögerungen gebrauchen. Komm. Ergib dich dem Rauch“, sagte er und ließ das Bild, das der dunkle, seidige Rauch der Kugel geformt hatte, verschwinden. Schattententakel streckten sich aus, umgaben den Vater des Zwielichts und er erzitterte. „Das Portal bringt dich nach Hause. Dort magst du weiterhin das Vertrauen jener verraten, die dich verehren, und du wirst erneut bereit sein, wenn ich es dir sage.“
Der Vater des Zwielichts legte seine Kutte ab und gab sich dem Rauch des Schattens hin. Nun trug er auch wieder seine vertrauteren Klerikergewänder.
„Danke, Mylord“, flüsterte Erzbischof Benedictus. „Danke!“
22
Sie standen auf der obersten Ebene des Wyrmruhtempels, als der Morgen anbrach: vier Aspekte und ein Orc. Alle waren müde, doch siegreich. Die vergangenen Stunden zwischen dem Fall von Chromatus und diesem Moment waren von all den erforderlichen Kleinigkeiten in Anspruch genommen worden, die einer solchen Schlacht folgten: die Toten zählen und benennen, die Verwundeten heilen und die Nachzügler suchen.
Viele – zu viele – waren bei den Angriffen gefallen und die ernste Aufgabe, die Leichen zu bergen, würde bis zum Sonnenaufgang andauern. Für den Augenblick war jedoch alles Wichtige erledigt.
Sie hatten den Vater des Zwielichts nicht unter den getöteten Kultisten gefunden, obwohl Thrall darauf hingewiesen hatte, dass es eine ganze Reihe verkohlter Leichen gab – einige davon eindeutig menschlich und männlich. Kirygosa hatte ihren blauschwarzen Kopf geschüttelt. „Nein“, sagte sie, „ich würde ihn erkennen. Ich würde ihn überall erkennen.“
Kalecgos hatte sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck gemustert. Nur die Zeit würde zeigen, ob Kirygosa sich von den Monaten der Folter erholen würde. Doch sie war zu ihrem Schwarm zurückgekehrt und hatte einen festen Platz im Herzen der Lebensbinderin. Thrall vermutete, dass es ihr gut gehen würde.
Die einzigen Zwielichtdrachen, die sie gefunden hatten, waren tot. Der Rest war geflohen, führerlos und verängstigt. Und Chromatus...
Besorgt, dass irgendeine dunkle Macht versuchen könnte, Chromatus wiederzubeleben, hatten die Drachen versucht, den Leichnam zu zerstören.
Es war ihnen nicht gelungen. Irgendein mächtiger Zauber, womöglich tief in die Synthese von Magie und Technologie verwoben, die ihn überhaupt erst belebt hatte, beschützte den Körper.
„Dann muss er so lange bewacht werden, bis wir einen Weg gefunden haben, ihn völlig zu vernichten“, hatte Alexstrasza entschieden. „Repräsentanten von unseren Schwärmen werden ihn im Auge behalten. Er ist nicht tot... aber er liegt hier ohne einen Lebensfunken. Solange wird er niemandem schaden.“
„Während des Nexuskriegs erschuf Malygos arkane Gefängnisse“, hatte Kalecgos angemerkt. „Wir wissen, wie gut sie funktioniert haben. Wir könnten eines bauen, das groß und stark genug ist, ihn aufzunehmen.“
Nun standen fünf Gestalten, vier Drachen und ein Orc, zusammen und blickten nach Osten. „Wir werden in Kürze wieder getrennte Wege gehen“, sagte Nozdormu leise. „Aber wir werden nie wieder wirklich getrennt sein. Nie wieder.“ Er hob den Kopf und sah sie an. „Thrall... ich habe Euch gesagt, wasss ich erfahren habe.“ Thrall nickte und hörte stumm zu, während Nozdormu den anderen Aspekten das schreckliche Wissen weitergab, das er bereits mit Thrall geteilt hatte.
„Thrall fand mich, als ich versssucht habe, die Antwort auf etwasss zu finden. Ihr alle wisst, dass ich Stunde und Art meines Todesss kenne. Und obwohl ich mein Wisssen nie ausnutzen würde, wurde ich doch auf meinen Reisen auf einem Zeitweg der Anführer desss ewigen Drachenschwarmsss.“
Sie starrten ihn erschrocken an. Für einen langen Moment konnte niemand etwas sagen. Dann meinte Alexstrasza sanft: „Du sagtest Zeitweg. Ist es der wahre, alter Freund?“
„Das weiß ich nicht“, erwiderte er. „Ich wollte genau das herausfinden. Ich wollte einen Weg finden, um zu vermeiden, dass ich etwasss Derartigesss tun werde. Und auf dieser Suche erfuhr ich, was Thrall euch dann berichtete: dass all das Leiden, mit dem wir es zu tun haben – der Wahnsinn von Malygos und Todesschwinge, der Smaragdgrüne Traum, der sich in einen Albtraum verwandelte, der Schattenhammerkult – alles miteinander in Verbindung steht. Das sagte ich Thrall. Und der Grund, warum ich so spät zu eurer Hilfe eilte, war, dass ich einer anderen Spur folgte. Ich habe entdeckt, wer hinter dieser großen und schrecklichen Verschwörung steckt.“ Seine Augen leuchteten, hell vor gerechtem Zorn. „Es... Ich kann es kaum ausssprechen, selbst jetzt. Es sind...“, seine mächtige Stimme wurde zu einem tiefen Flüstern, „... die Alten Götter.“