Die Sonne war gerade untergegangen, als er den Tunnel betreten hatte, und da der Weg ziemlich lang war, mußte es draußen inzwischen ganz dunkel geworden sein. Er warf einen Blick nach rückwärts. Ihm schien, daß zwischen ihm und den zwei glühenden Kreisen keine zehn Schritte lagen. Als die wilden Augen die seinen trafen, stieß das Tier ein schauerliches Brüllen aus und sprang.
Ein Mann brauchte Nerven aus Stahl, wenn er sich dem Angriff eines so riesigen Raubtieres stellen wollte, das von ungeheurer Wildheit war und dazu die schärfsten Fänge fletschte, die man sich vorstellen konnte, und die Fänge konnte Carthoris sich genau vorstellen, obgleich er sie nicht sah. Aber er hatte diese Nerven aus Stahl, die er brauchte.
Er hatte sich genau eingeprägt, wo die glühenden Augen waren, und er hatte die unglaublich ruhige Schwerthand seines mächtigen Vaters und Herrn, so daß er, obwohl er dem Ansturm des Tieres leicht seitlich auswich, seine Schwertspitze mit tödlicher Sicherheit in einen dieser Kreise stieß.
Das verwundete Tier brüllte vor Schmerz und Wut, schlug mit den Tatzen um sich und war mit einem Riesensatz an ihm vorbei.
Doch dann drehte es sich um und wollte noch einmal angreifen.
Diesmal sah Carthoris nur noch einen glühenden Kreis, der vor unbändigem Haß brannte.
Wieder traf die Spitze in den flammenden Kreis, und wieder hallte der entsetzliche Schmerzensschrei des Tieres durch den Felstunnel, von dessen Wänden er als hundertfaches Echo zurückkam.
Trotzdem griff das Tier erneut an. Diesmal hatte Carthoris keinen glühenden Richtpunkt mehr, in den er seine Schwertspitze schicken konnte. Er hörte das Kratzen krallenbewehrter Pfoten auf dem harten Fels. Er wußte, daß das Tier sich näherte, doch er konnte nichts sehen.
Allerdings konnte ihn auch sein Feind nicht mehr sehen…
Carthoris hielt sein Schwert, wie er glaubte, etwa auf Brusthöhe des Tieres und tat einen Satz zur Tunnelmitte. Mehr konnte er kaum tun, und er hoffte, der Zufall möge sein Schwert genau in das Herz des gefährlichen Feindes schicken.
So schnell war diese Sache dann vorüber, daß Carthoris es kaum zu glauben vermochte, als der riesige Körper an ihm vorüberschoß. Entweder hatte er selbst nicht die Tunnelmitte erraten, oder das blinde und schmerzgepeinigte Tier hatte sich verschätzt.
Jedenfalls mißte ihn das gewaltige Tier etwa um Fußbreite, und dann raste es den Tunnel entlang, als wolle es eine Beute verfolgen, die vor ihm auf der Flucht war.
Auch Carthoris lief in die gleiche Richtung, und nun dauerte es nicht mehr lange, bis er erleichtert aufatmete, weil ein Schimmer Mondlicht vom Ausgang her in die Dunkelheit des Tunnels fiel.
Vor ihm lag eine tiefe, breite Rinne, die völlig von hohen Felsen umgeben war. Das ganze Tal selbst war mit enormen Bäumen bestanden, und das war ein seltsamer Anblick, wenn man bedachte, wie weit diese Berge von den großen Wasserwegen entfernt waren. Der Boden war mit dichtem, scharlachfarbenem Gras bewachsen, in dem dicke Polster bunter, wilder, unbeschreiblich schöner Blumen wucherten.
Im Licht der beiden Monde war die Szene von unbeschreiblicher Lieblichkeit, über der ein Hauch merkwürdigster Verzauberung lag. Aber er gönnte sich nur einen kurzen Augenblick für die Bewunderung des Bildes, das sich seinen Augen bot, denn er sah vor sich einen riesigen Banth quer über dem Kadaver eines Thoat stehen, das ganz frisch geschlagen war.
Das riesige Tier sträubte seine prächtige, gelblich-braune Mähne, als es einen anderen Banth beobachtete, der sinn- und ziellos da- und dorthin rannte und schrille Schmerzensschreie und dazwischen immer wieder ein entsetzliches Wutgebrüll ausstieß.
Dieses letztere Tier mußte jenes sein, das er im Tunnel zweimal getroffen und damit geblendet hatte: größeres Interesse hatte Carthoris jedoch an dem frischgeschlagenen Thoat. Die Raubtiere waren im Moment von untergeordneter Wichtigkeit.
Das riesige Reittier trug noch sein Geschirr, und Carthoris zweifelte nicht daran, daß es jenes Thoat war, auf dem der grüne Krieger seine Gefangene. Thuvia von Ptarth, entführt hatte.
Aber wo waren Reiter und Entführte? Den Prinzen von Helium überlief es kalt, als er sich das Schicksal ausmalte, das die beiden vermutlich ereilt hatte.
Diese Marslöwen sind reine Fleischfresser, und besonders wild sind sie auf Menschenfleisch. Sie sind auch so groß, daß sie gewaltige Mengen Fleisch brauchen, um sich zu sättigen.
Kein Wunder also, wenn sie alles anfallen, was ihnen in den Weg kommt. Zwei Menschen, selbst wenn der eine davon ein riesiger grüner Krieger war, regten erst den enormen Appetit dieser Tiere an. Carthoris hatte also allen Grund zu der Vermutung, der Banth habe Thuvia von Ptarth und den grünen Krieger getötet und aufgefressen. Für das riesige Thoat hatte sein Hunger nicht mehr ganz ausgereicht, und er hatte es daher nur getötet. Seine Leibspeise, die Menschen, hatte er jedoch sofort verschlungen.
Der geblendete Banth war immer wieder dahin und dorthin gerannt und hatte Angriffe gegen die leere Luft geführt. Auf die Art war er an der Beute seines Kameraden vorbeigekommen, und nun trug ihm die leichte Brise frischen Blutgeruch zu.
Jetzt waren seine Bewegungen plötzlich wieder ganz gezielt.
Mit ausgestrecktem Schwanz und schäumenden Lefzen rannte er schnurgerade auf den Kadaver des Thoats zu, und der andere Banth, der vermutlich das Thoat geschlagen hatte, stand mit den Vordertatzen auf seiner Beute, die er zu verteidigen gedachte.
Der angreifende Banth war keine zwanzig Schritte mehr von dem Kadaver entfernt, als der andere Banth eine schauerliche Herausforderung brüllte und einen mächtigen Satz in die Richtung des anderen tat.
Der Kampf, der sich nun abspielte, ließ selbst einen kriegserfahrenen Barsoomianer vor Ehrfurcht erstarren. Voll unglaublicher Wut und Blutlust gingen sie aufeinander los, röhrten schauerlich und hieben mit den Tatzen. Die beiden blutenden Kreaturen bissen und schlugen solange aufeinander ein, bis sie tot dalagen. Ihre Köpfe und Schultern waren buchstäblich zerfetzt, und ihre mächtigen Kiefer waren noch in den Leib des Gegners verkrampft. Carthoris hatte fasziniert zugeschaut und konnte sich schließlich nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft von diesem schauerlichen Anblick losreißen.
Dann lief er schnell zum toten Thoat und suchte nach Anzeichen dafür, ob das Mädchen, wie er fürchtete, das Schicksal des toten Tieres geteilt hatte oder nicht. Nirgends vermochte er jedoch etwas zu entdecken, das ihm Gewißheit gegeben hätte.
Ihm war etwas leichter ums Herz, als er nun ins Tal weiterging, um sich umzuschauen. Er war noch nicht weit gekommen, als er am Boden ein glitzerndes Juwel liegen sah. Er hob es auf und musterte es und entdeckte, daß es der Haarschmuck einer Frau war. Und schließlich fand er darin eingraviert die Insignien des königlichen Hauses von Ptarth.
Doch zu seinem Entsetzen entdeckte er Blut, noch ganz frisches Blut an diesem Schmuckstück.
Carthoris schnürte es die Kehle zu, als er alle Möglichkeiten durchdachte, die dieser Fund in sich schloß. Nein, das Schlimmste konnte und wollte er nicht glauben!
Er hielt es ganz einfach für unmöglich, daß ein so strahlendes, liebenswertes Wesen ein so schreckliches Ende gefunden haben könnte. Und er wollte es um nichts in der Welt glauben, daß die schöne, wundervolle Thuvia überhaupt je zu existieren aufhören könnte.
Er steckte das funkelnde Geschmeide, das Thuvia von Ptarth getragen hatte, an seinen Harnisch, genau an jene Stelle seiner Waffengehänge, unter der sein treues Herz schlug, das große Herz des Prinzen von Helium. Es war ein heiliges Vermächtnis für ihn, das er niemals wieder abzunehmen gedachte.
Dann setzte er seinen Weg in das unbekannte Tal fort.
Er konnte an keiner Stelle weit sehen, da riesige Bäume ihm den Ausblick verwehrten. Gelegentlich zeigten sich dazwischen die Umrisse der hohen Berge, die das Tal auf allen Seiten einschlossen. Im Licht der beiden Monde hatte es den Anschein, als stünden sie in unmittelbarer Nähe, doch er wußte, daß sie sehr weit entfernt waren, daß auch das Tal sehr weitläufig war.