Aber kaum hatten sie die ersten hundert Meter zurückgelegt, als sie hinter sich eine ganze Menge brüllender Stimmen vernahmen.
Sie drehten sich um und sahen eine ganze Kompanie Bogenschützen durch das Tor, das sie eben durchschritten hatten, auf die Ebene quellen.
Auf der Mauerkrone standen ziemlich viele Lotharianer, und unter ihnen erkannte Jav den Jeddak Tario. Der schaute sie wütend an und schien die ganze Kraft seines geschulten Geistes auf sie zu konzentrieren. Es lag eindeutig auf der Hand, daß er die größte Anstrengung machte, die tödlichen Kreaturen seiner Einbildung auf sie zu hetzen.
Jav wurde aschfahl und begann am ganzen Leib zu zittern.
Jetzt, im entscheidenden Moment, schien ihn der ganze Mut zu verlassen, zu seiner Überzeugung zu stehen. Der große Banth drehte sich zu den heranmarschierenden Bogenschützen um und knurrte sie an. Carthoris stellte sich zwischen Thuvia und den Feind und wartete auf den Zusammenprall.
Plötzlich hatte Carthoris so etwas wie eine Erleuchtung.
»Wirf deine Bogenschützen gegen die Tarios!« rief er Jav zu.
»Laß uns einmal einen Kampf erleben, der sich zwischen zwei materialisierten Mentalitäten abspielt!«
Dieser Vorschlag schien dem Lotharianer wieder einigen Mut zu machen, und schon im nächsten Moment standen die drei hinter dichtgeschlossenen Reihen riesiger Bogenschützen, die der aus der ummauerten Stadt heranmarschierenden Kompanie Beleidigungen und Drohungen entgegenschrien.
Jav war ein ganz anderer Mensch, als sein Bataillon zwischen ihm und Tario stand. Man hätte schwören mögen, daß der Mann davon überzeugt war, die Kreaturen seiner seltsamen hypnotischen Kräfte seien tatsächlich Krieger aus Fleisch und Blut.
Sie stießen heisere Kampfschreie aus, als sie die Bogenschützen Tarios angriffen. Die mit Widerhaken versehenen Pfeile flogen in rascher Folge hinüber. Männer fielen, und der Boden war rot von ihrem Blut.
Carthoris und Thuvia kannten zwar die Wahrheit, doch sie hatten Mühe, das was sie sahen, mit ihrem Wissen in Einklang zu bringen. Ein Utan nach dem anderen marschierte im Gleichschritt aus dem Tor, um die schon dezimierte Kompanie zu unterstützen, die Tario erst ausgeschickt hatte, um die drei gefangenzunehmen.
Sie sahen, daß Javs Streitkräfte an Zahl ständig zunahmen, so daß sich schließlich eine Unzahl kämpfender, fluchender Krieger miteinander auf dem Schlachtfeld balgte und die Toten haufenweise herumlagen.
Jav und Tario schienen über ihren kämpfenden Bogenschützen alles zu vergessen. Die einen marschierten vorwärts, die anderen fielen zurück, und dann war es wieder umgekehrt. Der breite Landstreifen zwischen Wald und Stadtmauer war wieder einmal zum blutigen Schlachtfeld geworden.
Hinter Thuvia und Carthoris lag der Wald. Der Prinz warf Jav einen Blick zu.
»Komm!« flüsterte er Thuvia zu. »Sie sollen ihren sinnlosen Kampf mit Phantomen allein ausfechten, denn keiner kann in Wirklichkeit dem anderen etwas zuleide tun. Sie sind wie zwei Großmäuler, die einander, statt zu kämpfen, Beschimpfungen an den Kopf werfen. Solange sie noch miteinander zu tun haben, wollen wir unsere Energien darauf verwenden, den Tunnel zu finden, der uns unter den Felsen durch in die Ebene dahinter bringt.«
Während er noch sprach, drehte sich Jav einmal kurz um und hörte, was Carthoris sagte. Er sah auch, daß Thuvia sich anschickte, dem Vorschlag des Prinzen zu folgen. Plötzlich war ein schlaues Funkeln in seinen Augen.
Das, was hinter diesem Blick lag, hatte schon tief in seinem Herzen zu glühen begonnen, als er Thuvia zum erstenmal erblickte. Er hatte es lange nicht als das erkannt, was es war – bis jetzt nicht, da sie aus seinem Leben zu verschwinden drohte.
Er konzentrierte sich für einen Augenblick auf den jungen Prinzen aus Helium und das junge Mädchen.
Carthoris sah Thuvia von Ptarth mit ausgestreckter Hand ihm entgegenkommen. Ihre plötzliche Sanftheit überraschte ihn, und deshalb schloß er seine Finger fester um die ihren, als sie sich vom vergessenen Lothar abwandten, um in den Wald zu gehen, zu den fernen Bergen.
Doch dann war Thuvia erstaunt, als sie in Carthoris’ Stimme einen ganz neuen Ton vernahm.
»Bleib hier bei Jav«, hörte sie ihn sagen. »Ich gehe inzwischen und suche die Passage unter den Klippen.«
Enttäuscht und verblüfft war sie zurückgeblieben. Für sie selbst hätte es nicht den geringsten Grund gegeben, ihn nicht zu begleiten. Bei ihm hätte sie sich überdies sicherer gefühlt als bei dem Lotharianer, den sie doch kaum kannte.
Jav beobachtete die beiden und konnte ein schlaues Lächeln nicht unterdrücken. Nachdem Carthoris im Wald verschwunden war, ließ sich Thuvia recht apathisch auf dem scharlachfarbenen Rasen nieder, um den nicht endenwollenden Kampf der Bogenschützen zu beobachten.
Der lange Nachmittag zog sich bis zur Dämmerung endlos hin, und noch immer griffen die einen an, zogen die anderen sich zurück und verkehrten dann die Lage. Ständig ging es hin und her, vor und zurück. Erst als die Sonne sich hinter den Horizont senkte, zog Tario langsam seine Truppen zur Stadt zurück.
Er schien den Plan zu haben, die Feindseligkeiten während der Nacht ruhen zu lassen, und Jav war damit einverstanden, denn er befahl seinen Streitkräften, sich zu ordentlichen Utans zusammenzutun und zum Wald zu marschieren: dort machten sich die Truppen bald daran, ihre Abendmahlzeit zu bereiten und ihre Schlafseiden und Pelze für die Nacht auszubreiten.
Thuvia vermochte kaum ein Lächeln zu unterdrücken, als sie bemerkte, mit welch übergroßer Genauigkeit sich Javs Truppen an die Gepflogenheiten von Soldaten aus Fleisch und Blut hielten.
Man stellte Wachtposten aus, welche das Lager zur Stadt hin absichern mußten. Offiziere liefen da- und dorthin, erteilten Befehle und sahen zu, daß sie auch ausgeführt wurden.
Thuvia wandte sich zu Jav um.
»Warum legst du eigentlich Wert darauf, daß bei deinen Phantomtruppen alles genauso abläuft wie bei richtigen Soldaten aus Fleisch und Blut? Tario weiß doch, daß diese Bogenschützen nur Verkörperungen deiner Gedanken sind. Warum erlaubst du es ihnen nicht, sich einfach wieder in Luft aufzulösen, bis du ihre Dienste wieder benötigst?«
»Das verstehst du anscheinend noch immer nicht«, erwiderte Jav. »Während sie existieren, sind sie wirklich. Ich rufe sie nur in diese Wirklichkeit zurück und überwache und leite ihre Handlungen. Aber dann sind sie, bis ich sie wieder auflöse, so echt und wirklich wie du und ich. Unter meiner Anleitung erteilen die Offiziere wirkliche Befehle und überwachen ihre Ausführung.
Ich bin ihr General, und das ist alles. Der psychologische Effekt auf meine Feinde ist so wesentlich größer als wenn ich sie als substanzlose Phantomgebilde behandeln würde.
Und dann«, fuhr der Lotharianer fort, »besteht immer noch eine kleine Hoffnung, die bei uns schon dem Glauben nahekommt, daß eines Tages diese Materialisationen ganz echt werden, daß sie bleiben – oder wenigstens ein Teil von ihnen – nachdem wir ihre Gefährten aufgelöst haben, und daß sich auf diese Art unsere sterbende Rasse erhalten und vielleicht sogar wieder einmal fortpflanzen läßt.
Es gibt einige unter uns, die behaupten, das hätten sie schon zustandegebracht. Eine allgemeine Vermutung geht dahin, daß es einigen Ätheralisten schon gelungen ist, einige Dauermaterialisationen zu bewirken, die sich nun unter uns bewegen. Selbst von Tario behaupten es manche, doch das ist nicht gut möglich, denn er hat schon existiert, ehe wir die vollen Möglichkeiten der Suggestion entdeckten.
Einige gibt es bei uns auch, die darauf bestehen, daß keiner von uns wirklich ist. Daß wir all diese Jahrhunderte hindurch nicht ohne Nahrung und Wasser hätten bestehen können, wenn wir selbst Materie wären. Wenn ich auch Realist bin, so neige ich persönlich doch auch zu dieser Ansicht.
Uns erscheint es gut und vernünftig, wenn wir glauben, daß einige unserer alten Vorfahren vor ihrem Erlöschen mit ihrem ungewöhnlich starken Geist so außerordentliche Mentalitäten entwickelten, daß ihre Geister noch nach dem körperlichen Tod weiterlebten, so daß wir selbst die todlosen Geister von Persönlichkeiten sind, die schon seit unendlichen Zeiten tot sind.