Das Mädchen stand wenig später neben ihm. Sie bemühte sich verzweifelt, das fürchterliche Tier von seiner Beute wegzureißen.
Der Banth hörte nicht auf zu knurren und warf Jav hungrige Blicke zu, aber schließlich ließ er sich doch in den Wald zurückbringen.
Thuvia machte sich nun mit ihrem wilden Beschützer an der Seite auf die Suche nach der Passage durch die Klippen. Sie hoffte, das schier Unmögliche zu vollbringen und allein und zu Fuß das ferne Ptarth zu erreichen, das mehr als siebzehntausend Haad entfernt war, und dazu mußte sie noch besonders wildes Gelände durchqueren.
Sie konnte nicht glauben, daß Carthoris sie absichtlich verlassen hatte, und so hielt sie ständig Ausschau nach ihm. Sie hielt sich jedoch bei ihrer Suche nach dem Tunnel zu weit nördlich, und so lief sie an dem Prinzen vorbei, als er auf der Suche nach ihr nach Lothar zurückkehrte.
Thuvia von Ptarth fiel es recht schwer, den genauen Platz des Prinzen von Helium in ihrem Herzen zu bestimmen. Nicht einmal vor sich selbst konnte sie zugeben, daß sie ihn liebte, und doch hatte sie ihm gestattet, sie mit den zärtlichsten Worten anzusprechen, die ein Mädchen auf Barsoom nicht anhören durfte, wenn sie nicht von ihrem Verlobten oder ihrem Ehemann kamen – meine Prinzessin.
Kulan Tith, Jeddak von Kaol, mit dem sie verlobt war, genoß ihrem Respekt und ihre Bewunderung. Hatte sie sich ihres Vaters Wünschen nur deshalb gefügt, weil der gut aussehende Heliumprinz die Anwesenheit am Hof ihres Vaters nicht sofort dazu benützte, um ihre Hand zu bitten? War sie deshalb gekränkt gewesen? Hatte sie nicht darüber nachgedacht und darauf gewartet, seit sie Hand in Hand auf den geschnitzten Sesseln im inneren Hof des Palastgartens von Salensus Oll in Kadabra gesessen hatten?
Liebte sie denn Kulan Tith? Tapfer versuchte sie es sich selbst glauben zu machen, daß sie ihn liebte, aber dabei hielt sie immer nach der hohen, schönen Gestalt eines schwarzhaarigen, grauäugigen und schlankbeinigen Kämpfers Ausschau. Schwarze Haare hatte Kulan Tith, doch seine Augen waren braun, und ganz so schlank war er auch nicht…
Es war schon fast dunkel, als sie endlich den Eingang zum Tunnel fand. Unbehelligt erreichte sie die Hügel auf der anderen Seite, und hier legte sie unter dem hellen Licht der beiden Marsmonde eine Rast ein, um sich einen Plan für die nächste Zukunft zurechtzulegen. Sollte sie hier warten in der Hoffnung, Carthoris möge auf der Suche nach ihr zurückkehren? Oder sollte sie ihren Weg nach Ptarth in nordöstlicher Richtung fortsetzen?
Wohin konnte sich Carthoris gewandt haben, nachdem er das Tal von Lothar verlassen hatte?
Mund und Kehle waren ihr ausgetrocknet, und dieser Umstand gab den Ausschlag – auf nach Aaanthor, wo es Wasser gab. Nun, sie würde also nach Aaanthor gehen und dort vielleicht mehr vorfinden als das so dringend benötigte Wasser.
Mit Komal an ihrer Seite hatte sie keine Angst, denn er konnte und würde sie vor allen anderen wilden Tieren beschützen. Selbst die großen weißen Affen scheuten die Banths und flohen, wenn sie einen auch nur von weitem sahen. Zu fürchten brauchte sie nur Menschen, aber damit und mit etlichen anderen Widrigkeiten mußte sie sich abfinden, wenn sie den Hof ihres Vaters wieder erreichen wollte.
Als Carthoris sie dann endlich fand, um vom Langschwert eines grünen Kriegers fast erschlagen zu werden, wünschte Thuvia nichts sehnsüchtiger, als daß dasselbe Schicksal sie ereilen möge.
Dann sah sie die Roten Krieger aus den Fliegern springen, und einen Augenblick lang faßte sie neue Hoffnung – daß Carthoris von Helium nur betäubt sein möge und daß diese Männer ihn retten würden. Doch dann sah sie das Metall von Dusar an den Harnischen; ihr wurde klar, daß diese Leute nur sie vor den angreifenden Torquasianern zu retten gedachten – und da gab sie auf.
Auch Komal war tot, und er lag fast in seiner ganzen Länge auf Carthoris. Jetzt war sie ganz allein und hilflos. Sie hatte niemanden mehr, der sie beschützen konnte.
Die Krieger aus Dusar schleppten sie auf das Deck des einen Fliegers, und nun griffen sämtliche grünen Krieger voll neuer Wut an, um sie den Roten wieder zu entreißen.
Schließlich gewannen die wenigen, die im Kampf nicht gefallen waren, die Decks der beiden Schiffe. Die Maschinen brummten und summten, und die Propeller sirrten. Die Schiffe legten blitzschnell ab und schossen himmelwärts.
Thuvia von Ptarth schaute sich um. Neben ihr stand ein Mann und lächelte zu ihr hinunter. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie ihn erkannte, und sie begrub stöhnend vor Angst und Entsetzen ihr Gesicht in den Händen. In ihrer Verzweiflung ließ sie sich auf das Deck aus poliertem Skeelholz sinken.
Es war Astok, Prinz von Dusar, der sich über sie beugte.
Die Schiffe Astoks von Dusar waren schnell, und es war ungeheuer wichtig, daß sie in kürzester Zeit den Hof ihres Vaters erreichten, denn die Kriegsflotten von Helium, Ptarth und Kaol waren über ganz Barsoom verstreut. Und Astok von Dusar würde es übel ergehen, entdeckte eines dieser Schiffe Thuvia von Ptarth als Gefangene auf dem Privatflieger des Prinzen.
Aaanthor liegt etwa fünfzig Grad südlich und vierzig Grad östlich von Horz, dem nun verlassenen Sitz der ältesten Kultur Barsooms, während Dusar fünfzehn Grad nördlich vom Äquator und zwanzig Grad östlich von Horz zu finden ist.
Die Entfernung ist groß, aber die schnellen Flieger bewältigten sie ohne Zwischenlandung. Lange ehe sie ihren Bestimmungsort erreichten, hatte Thuvia von Ptarth einiges erfahren, das ihre Zweifel zerstreute, die sie so lange gequält hatten. Kaum hatten sie sich nämlich über Aaanthor erhoben, als sie einen aus der Mannschaft als einen Mann jener Schiffsbesatzung erkannte, die sie damals aus ihres Vaters Garten nach Aaanthor entführte. Daß Astok auf diesem Schiff war, beantwortete also die Grundfrage.
Sie war von Beauftragten des Prinzen von Dusar entführt worden und Carthoris von Helium hatte nicht das Geringste damit zu tun.
Astok leugnete auch gar nichts, als sie ihn der Entführung beschuldigte. Er lächelte nur und schwor ihr, er habe es aus Liebe zu ihr getan.
»Eher würde ich mich mit einem weißen Affen zusammentun!« rief sie, als er sie bedrängte.
Astok funkelte sie wütend an.
»Du wirst dich mit mir zusammentun, Thuvia von Ptarth«, knurrte er. »Oder, wenn du weiter widerspenstig bist, dann sollst du – bei meinen ersten Vorfahren schwöre ich es – wirklich einen weißen Affen zum Gefährten erhalten.«
Das Mädchen antwortete nichts, und es gelang ihm während der ganzen Reise nicht, sie in eine Unterhaltung zu ziehen.
Es war ja nun Tatsache, daß es Astok ziemlich ungemütlich zumute war, wenn er daran dachte, welche Ausmaße der Konflikt inzwischen angenommen hatte. Er hätte nie geglaubt, daß eine Entführung so schwerwiegende Folgen haben könnte, und die Verantwortung, die er sich mit einer solchen Gefangenen auflud, machte ihm erheblich zu schaffen.
Sein einziger Gedanke war also der, sie nach Dusar zu bringen und alles weitere dann seinem Vater zu überlassen. Inzwischen wollte er sorgfältig alles vermeiden, was sie kränken oder herausfordern konnte, denn er mußte damit rechnen, daß sie alle in Gefangenschaft kommen würden. Selbstverständlich mußte er dann auch Rechenschaft ablegen über die Behandlung des Mädchens, das ja schließlich die Tochter eines der mächtigsten Jeddaks war.
So kamen sie schließlich nach Dusar, wo Astok seine Gefangene in einem Geheimgemach hoch oben im Ostturm seines privaten Palastes versteckte. Seine Männer hatten ihm Schweigen schwören müssen, und keiner von ihnen durfte über die Identität des Mädchens aussagen; erst wollte er mit seinem Vater Nutus, Jeddak von Dusar, sprechen, ehe jemand erfahren durfte, wen er vom Süden mitgebracht hatte.
Als er jedoch im großen Audienzsaal vor dem Mann mit den grausamen Lippen erschien, der sein Vater war, schwand sein ganzer Mut dahin, und er wagte nicht von der Prinzessin zu sprechen, die er in seinem Palast versteckt hielt. Er zog es vor, erst einmal seines Vaters Einstellung zu diesem Fall kennenzulernen, und so erzählte er eine Geschichte des Inhalts, daß er jemanden gefangengenommen habe, der behaupte, den Aufenthaltsort der Prinzessin Thuvia von Ptarth zu kennen.