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Die Gefangene eines grünen Kriegers
Als der erste Tagesschein auf das Deck des Schiffchens fiel, mit dem die Prinzessin von Ptarth aus dem Garten ihres Vaters entführt worden war, sah Thuvia, daß im Laufe der Nacht mit ihren Entführern eine Veränderung vorgegangen war.
Am Waffengehänge der Männer funkelten nicht mehr die Embleme von Dusar, sondern die Insignien des Prinzen von Helium.
Nun fühlte das Mädchen neue Hoffnung, denn sie konnte nicht glauben, daß Carthoris von Helium ihr irgendeinen Schmerz zufügen könnte.
Sie sprach zu dem Krieger, der vor dem Instrumentenbrett hockte. »Vergangene Nacht trugst du die Zeichen und den Harnisch von Dusar«, sagte sie. »Jetzt ist dein Metall das von Helium. Was hat das zu bedeuten?«
Der Mann grinste sie triumphierend an.
»Der Prinz von Helium ist doch kein Narr«, antwortete er.
In diesem Augenblick kam ein Offizier aus der winzigen Kabine. Er machte dem Krieger Vorwürfe, weil er mit der Gefangenen gesprochen hatte, und auch er selbst weigerte sich, auf ihre Fragen zu antworten.
Man tat ihr während der Reise nichts zuleide, und als sie an ihren Bestimmungsort kamen, war das Mädchen um nichts klüger als vorher. Sie wußte ebenso wenig wie vorher, wer sie entführt hatte und zu welchem Zweck.
Der Flieger senkte sich auf den weiten Platz einer der uralten toten, fast vergessenen Marsstädte am Ufer der trostlosen ockerfarbenen Seegründe, über die einst die Wasser der Marsmeere gespült hatten und die damals den Reichtum der längst ausgestorbenen Völker mit einem blühenden Seehandel begründeten.
Thuvia von Ptarth kannte diese Stätten. Als sie damals – ihr schien, das müsse schon viele hundert Jahre zurückliegen – auf die Wanderschaft gegangen war, um den Fluß Iss zu suchen, der das Ziel der letzten Pilgerfahrt zahlreicher Marsleute war, da hatte sie einige dieser Städte kennengelernt, die Zeugen einer grandiosen Vergangenheit ihrer Welt waren. Auf dem Weg zum Tal Dor, in dem die Verlorene See von Korus liegt, hatte sie sehr viel von ihrer Welt gesehen.
Auch damals auf der Flucht vor den Heiligen Therns, als sie mit Tars Tarkas, Jeddak von Thark, zusammen war, war sie durch solche Städte gezogen, und da hatte sie auch die häßlichen, grausamen und unheimlichen Bewohner der alten Paläste, die großen weißen Affen von Barsoom gesehen.
Sie wußte auch, daß diese verlassenen Städte heute von manchen Nomadenstämmen der grünen Männer als Stützpunkte benutzt wurden, aber gerade um diese Städte hätte jeder Rote Krieger einen großen Bogen gemacht, denn sie standen ausnahmslos auf weiten, wasserlosen Ebenen, die der herrschenden Roten Rasse keine Lebensmöglichkeiten bot.
Warum brachte man sie dann an einen solchen Ort? Darauf gab es nur eine einzige Antwort. Ihre Entführer mußten auf die Abgeschiedenheit angewiesen sein, die eine solche Stadt gewährte. Und bei diesem Gedanken begann das Mädchen zu zittern.
Zwei Tage lang wurde sie von ihren Entführern in einem riesigen Palast festgehalten, der selbst in seinem Verfall noch den einstigen Glanz ahnen ließ.
Kurz vor Anbruch des dritten Tages wurde sie von den Stimmen zweier ihrer Entführer aufgeweckt.
»Um die Dämmerung müßte er hier sein«, sagte der eine.
»Du hältst sie auf dem Platz bereit, denn sonst wird er niemals landen. In dem Augenblick, in dem er findet, daß er sich in diesem fremden Land befindet, wird er umkehren. Mir scheint, an dieser Stelle ist der Plan des Prinzen ziemlich schwach.«
»Es gab aber keine andere Möglichkeit«, erwiderte der zweite.
»Es war schon schwierig genug, sie beide hierher zu bringen, und selbst wenn es uns nicht gelingen sollte, ihn auf den Grund herunterzulocken, ist uns eine ganze Menge gelungen.«
In diesem Augenblick bemerkte der Sprecher, daß Thuvia ihn ansah. Der nähere Mond warf einen hellen Schein in den Raum und ließ die Augen der gefangenen Prinzessin aufblitzen.
Er machte dem anderen rasch ein Zeichen, daß er schweigen solle und hörte selbst zu sprechen auf. Dann ging er auf das Mädchen zu und bedeutete Thuvia, sie solle aufstehen. Er führte sie in die Nacht hinaus zur Platzmitte.
»Hier bleibst du stehen«, befahl er ihr, »bis wir kommen und dich holen. Wir passen genau auf. Solltest du zu fliehen versuchen, so wird es dir übel ergehen, und dein Schicksal wird schlimmer sein als der Tod. Das ist der Befehl des Prinzen.«
Dann drehte er sich um und ging wieder zum Palast zurück.
Nun stand sie in der Mitte dieser gespenstischen Stadt, die voll unheimlichen, unsichtbaren Lebens war. Viele Marsleute sind der festen Überzeugung, daß sich seit tausend Jahren hier die Seelen der verstorbenen Heiligen Therns versammelten, um in die Leiber der großen weißen Affen überzugehen. Das war ein uralter Aberglaube, und sie hielten noch immer daran fest. Natürlich hatten die Heiligen Therns selbst diesen Aberglauben genährt und behauptet, jedem von ihnen stünden tausend Lebensjahre zu, und wer vor dieser Zeit sterbe, nehme bis zum Ablauf seiner Zeit Wohnung in den riesigen, wilden weißen Affen.
Thuvia glaubte zwar nicht daran, sondern sie sah die Gefahr für sich selbst in einem Angriff dieser menschenähnlichen Bestien.
Seit sie damals von John Carter aus den Höhlengefängnissen und den Klauen der Heiligen Therns gerettet worden war, hatte sie allem Aberglauben abgeschworen. Sie wußte jedoch, daß ein entsetzliches Schicksal ihrer wartete, sollte eines dieser häßlichen, riesigen Tiere sie auf einem nächtlichen Streifzug erspähen.
Was war das?
Ganz gewiß hatte sie sich nicht geirrt. Etwas hatte sich im Schatten eines riesigen Monoliths der Straßenbegrenzung bewegt, und das war genau dort, wo die breite Avenue auf den Platz einmündete!
Thar Ban, Jed der Horden von Torquas, ritt eiligst über das ockerfarbene dünne Moos der toten Seegründe in Richtung der uralten Ruinen der alten Stadt Aaanthor.
Er war weit geritten in jener Nacht, und sehr eilig hatte er es auch gehabt, denn er hatte den Inkubator einer nachbarlichen grünen Horde zerstört. Mit diesen Nachbarn lagen die Horden von Torquas ununterbrochen im Krieg.
Sein riesiges Thoat war aber weit davon entfernt, müde zu sein, obwohl Thar Ban es doch für gut hielt, es ein wenig äsen zu lassen.
Das ockerfarbene Moos wächst in den geschützten Höfen der verlassenen Städte, wo der Boden viel besser ist als der Sand der toten Seegründe, wesentlich höher und üppiger, und es ist auch sehr wichtig, daß die Pflanzen wenigstens für einen Teil des Tages Schutz vor der sengenden Sonne haben.
In den zarten Stengeln dieser äußerlich so trockenen Pflanze befindet sich genug Flüssigkeit. Die mächtigen Thoats können in ihren riesigen Leibern soviel Feuchtigkeit speichern, daß sie monatelang ohne Wasser auskommen können, und tagelang brauchen sie nicht einmal das bißchen Feuchtigkeit, das ihnen dieses ockerfarbene Moos spendet.
Als Thar Ban lautlos die breite Avenue entlangritt, die von den ehemaligen Kais von Aaanthor zum ungeheuer großen Stadtplatz führt, sahen er und sein Thoat aus, als stammten sie aus einer Traumwelt, so grotesk wirkte der Mann auf dem Tier, so lautlos tappten die riesigen, weichen Pfoten über das kurze Moos, das auf den Platten des alten Straßenpflasters wuchs.
Der Mann war ein großartiges Exemplar seiner Rasse. Er maß von der Sohle bis zum Schädeldach volle fünfzehn Fuß. Seine glatte grüne Haut schimmerte im Licht des nahen Mondes, dessen Strahlen sich in den Edelsteinen seines Harnisches fingen. Seine vier muskulösen Arme waren mit schweren, zahlreichen Reifen und Ornamenten geschmückt, und seine nach oben gebogenen Stoßzähne, die dem Unterkiefer entsprangen, schimmerten weiß und furchterregend.
An der Flanke seines Thoats hingen die lange Radiumflinte und der schlanke Vierzigfußspeer mit der scharfen Metallspitze. Ihm selbst hingen von der Hüfte ein Langschwert, ein Kurzschwert und einige kleinere Hilfswaffen.
Seine vorstehenden Augen und die antennenähnlichen Ohren drehten sich unablässig in alle Richtungen, denn Thar Ban befand sich noch im Feindesland. Auch er fürchtete die großen weißen Affen, die, wie John Carter immer sagte, die einzigen Kreaturen waren, welche den wilden, grausamen Kriegern der toten Seegründe eine Andeutung dessen einjagen konnten, was man sonst Angst nennt.