Was könnte einen solchen Wandel auslösen? Nur wenige kennen Einzelheiten über die gegenwärtige Fleisch-und Fischindustrie, aber die meisten wissen das Wesentliche – dass mindestens etwas falsch läuft. Die Einzelheiten sind wichtig, werden aber vermutlich die meisten Menschen nicht dazu bewegen, sich zu ändern. Dazu ist etwas anderes vonnöten.
3.
Scham
ZU WALTER BENJAMINS umfangreichen literaturkritischen Studien gehört auch die eindringlichste Interpretation von Franz Kafkas Tiererzählungen.
Scham als besonderes moralisches Empfinden nimmt eine zentrale Stellung in Benjamins Kafka-Lektüre ein. Scham hat eine individuelle Seite – wir empfinden sie in der Tiefe unseres Inneren – und gleichzeitig eine gesellschaftliche – wir empfinden sie vor anderen. Für Kafka ist Scham eine Reaktion und eine Verantwortung vor unsichtbaren anderen – einer »unbekannten Familie«, um eine Wendung aus Kafkas Tagebuch zu verwenden. Sie ist die Grundlage des Ethischen.
Benjamin betont, dass Kafkas Vorfahren – seine unbekannte Familie – auch Tiere umfassen. Tiere gehören zu der Gemeinschaft, vor der Kafka rot werden könnte, und das soll heißen, dass sie ihn moralisch ansprechen. Benjamin erklärt uns auch, dass Kafkas Tiere »Behältnisse des Vergessens« sind, eine Bemerkung, die zunächst verblüfft.
Ich erwähne diese Einzelheiten, um eine kleine Geschichte einzuflechten, in der Kafka im Berliner Aquarium Fische betrachtet. Kafkas enger Freund Max Brod erzählt sie:
Da sprach er zu den Fischen in den leuchtenden Kästen. »Jetzt kann ich euch schon ruhig anschaun, ich esse euch nicht mehr.« Es war die Zeit, in der er strenger Vegetarianer geworden war. Wenn man solche Aussprüche Kafkas nicht selbst aus seinem Munde gehört hat, kann man sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie einfach und leicht, ohne alle Affektation, ohne das geringste Pathos (das ihm überhaupt fast völlig fremd war) Derartiges von ihm gesagt wurde.
Was hatte Kafka dazu bewogen, Vegetarier zu werden? Und warum führt Brod Fische an, um Kafkas Ernährung anzusprechen? Bestimmt hat sich Kafka in der Zeit, als er Vegetarier wurde, auch zu Landtieren geäußert.
Eine mögliche Antwort liegt in der Verbindung, die Benjamin einerseits zwischen Tieren und Scham und andererseits zwischen Tieren und Vergessen herstellt. Scham ist das Werk der Erinnerung gegen das Vergessen. Wir empfinden Scham, wenn wir Erwartungen der Gesellschaft und unsere Verpflichtungen gegenüber anderen fast ganz – wenn auch nicht gänzlich – zugunsten unserer unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung vergessen. Für Kafka müssen Fische in besonderer Weise jenes Fleisch des Vergessens gewesen sein: Wir vergessen sie derart radikal, wie wir das bei Nutztieren nicht tun würden.
Neben diesem buchstäblichen Vergessen von Tieren, indem man sie isst, sind Tierleiber auch noch mit dem Vergessen von all dem belastet, was wir an uns selbst vergessen wollen. Wenn wir einen Teil unseres Wesens leugnen wollen, sprechen wir von unserer »animalischen Natur«. Wir unterdrücken oder verbergen diese Natur, wachen dann aber dennoch – wie Kafka besser wusste als wir alle – manchmal auf und stellen fest, dass wir, immer noch, nur Tiere sind. Und das scheint richtig zu sein. Es ist nicht so, dass Fische uns vor Scham erröten lassen. Wir können in Fischen Teile von uns wiedererkennen – Wirbelsäule, Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren), Endorphine (die Schmerzen lindern), alle bekannten Schmerzreaktionen –, doch dann leugnen wir, dass diese tierischen Ähnlichkeiten wichtig sind, und damit leugnen wir gleichermaßen wichtige Züge unseres Menschseins. Was wir in Bezug auf Tiere vergessen, vergessen wir langsam auch in Bezug auf uns.
Wenn wir heute über das Essen von Tieren reden, steht nicht nur unsere grundlegende Fähigkeit auf dem Spiel, wie wir mit fühlendem Leben umgehen, sondern unsere Fähigkeit, wie wir mit Teilen unserer eigenen (tierischen) Natur umgehen. Es herrscht nicht nur Krieg zwischen uns und ihnen, sondern zwischen uns und uns. Es ist ein Krieg, der so alt wie das Erzählen von Geschichten ist und der unausgewogener als jemals in der Geschichte ist. Der Philosoph Jacques Derrida sagt, es sei
ein ungleicher Kampf, ein Krieg (dessen Ungleichheit sich eines Tages umkehren könnte), der geführt wird zwischen einerseits denen, die das Leben der Tiere nicht nur missachten, sondern auch und sogar das empfundene Mitgefühl, und andererseits denen, die ein festes Bekenntnis zu diesem Mitgefühl fordern.
Es wird Krieg geführt über das Thema Mitgefühl. Dieser Krieg ist vermutlich zeitlos, aber … er durchläuft eine kritische Phase. Auch wir durchlaufen diese Phase, und sie durchläuft uns. Der Krieg, in dem wir uns derzeit befinden, ist nicht nur eine Aufgabe, eine Pflicht, eine Schuldigkeit, er ist auch eine Notwendigkeit, ein Zwang, dem – ob es uns gefällt oder nicht – direkt oder indirekt niemand entkommt … Das Tier sieht uns an, und wir stehen nackt vor ihm.
Stumm zieht das Tier unseren Blick auf sich. Das Tier sieht uns an, und ob wir wegsehen (vom Tier, unserem Teller, unserer Betroffenheit, uns selbst) oder nicht, wir sind ausgesetzt. Ob wir unser Leben ändern oder nichts tun, wir haben reagiert. Nichts zu tun heißt auch, etwas zu tun.
Vielleicht können unschuldige kleine Kinder dadurch, dass sie sich für bestimmte Dinge nicht verantwortlich fühlen, den stummen Blick eines Tiers freier und leichter als Erwachsene aufnehmen. Vielleicht haben zumindest unsere Kinder noch keine Stellung in unserem Krieg bezogen, sondern nehmen nur die Beute.
Im Frühjahr 2007 lebte meine Familie in Berlin, und wir verbrachten mehrere Nachmittage im Aquarium. Wir starrten in die Becken – oder zumindest sehr ähnliche Becken –, in die Kafka gestarrt hatte. Mich begeisterten vor allem die Seepferdchen – jene seltsamen, schachfigurartigen Wesen, die sehr oft als Fantasietier dargestellt werden. Seepferdchen gibt es nicht nur als Schachfiguren, sondern auch in Form von Strohhalmen und als Pflanzenschnitt, sie werden zweieinhalb bis gut 25 Zentimetergroß. Ich bin sicherlich nicht der Einzige, den die immer aufs Neue verblüffende Erscheinung dieser Fische fasziniert. (Unser Wunsch, sie zu betrachten, hat zur Folge, dass Millionen von ihnen in Aquarien und für den Souvenirhandel sterben.) Und genau diese ästhetische Einzigartigkeit ist der Grund, warum ich mich hier mit ihnen beschäftige, während ich viele andere Tiere nicht erwähne – Tiere, die für dieses Buch eigentlich relevanter wären. Seepferdchen sind nun einmal ein Extrem des Extrems.
Mehr als die meisten anderen Tiere erstaunen uns Seepferdchen, weil sie unsere Aufmerksamkeit auf die überraschenden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vielen verschiedenen Lebewesen lenken. Sie können, um sich ihrer Umgebung anzupassen, die Farbe wechseln und mit ihrer Rückenflosse beinahe so schnell schlagen wie ein Kolibri mit seinen Flügeln. Weil sie weder Zähne noch einen Magen haben, rutscht die Nahrung fast auf der Stelle durch sie hindurch, weshalb sie ständig fressen müssen. (Daher auch Adaptationen wie die Augen, die sich unabhängig voneinander bewegen. Das ermöglicht ihnen, nach Beute zu suchen, ohne den Kopf zu drehen.) Sie sind keine besonders guten Schwimmer und können schon in einer schwachen Strömung vor Erschöpfung sterben. Deshalb verankern sie sich lieber an Seegräsern, Korallen oder anderen Seepferdchen – sie schwimmen gern paarweise, die Greifschwänze ineinander verschlungen. Seepferdchen haben komplizierte Werberituale, paaren sich gern bei Vollmond und geben dabei musikalische Laute von sich. Sie leben in langfristigen monogamen Partnerschaften. Aber das Ungewöhnlichste ist vielleicht, dass bei den Seepferdchen das Männchen »trächtig« wird und die Jungen bis zu sechs Wochen in der Bauchtasche austrägt. Sie versorgen sie in dieser Zeit auch mit Nährstoffen. Immer wieder überwältigend ist der Anblick von gebärenden Männchen: Eine Wolke