Kate legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mein Held«, sagte sie. Er hörte sie kaum und erwiderte nichts. Nach einer Weile ließ das Zittern nach, und er stand wieder auf. »Ich war sehr froh, dich zu sehen«, sagte sie.
Er nickte und lächelte. »Ich habe den einfacheren Weg hier runter genommen.«
Chris hatte es geschafft, seine Rutschpartie zu stoppen. Viele schwierige Minuten hatte es gedauert, bis er den Hang wieder hochgeklettert war, und dann hatte er den anderen Pfad nach unten genommen. Er erwies sich als bequemer Weg zum Fuß des Wasserfalls, wo er Kate auf dem Richtblock liegen sah.
»Den Rest kennst du«, sagte er. Auf das Schwert gestützt, schaute er zum Himmel hoch. Es wurde allmählich dunkel. »Was meinst, du,
wieviel Zeit wir noch haben?«
»Ich weiß es nicht. Vier, fünf Stunden.«
»Dann sollten wir langsam anfangen zu suchen.«
Die Decke der grünen Kapelle war an verschiedenen Stellen eingebrochen, der Innenraum ruiniert. Es gab einen kleinen Altar,
gotische Einfassungen um zerbrochene Fenster, Pfützen brackigen
Wassers auf dem Boden. Es war kaum noch zu erkennen, daß diese
Kapelle früher ein Juwel gewesen war, mit reichverzierten steinernen
Türstürzen und Spitzbögen. Jetzt tropfte schleimiger Moder von den Meißelarbeiten, die bis zur Unkenntlichkeit verwittert waren. Eine schwarze Schlange glitt davon, als Chris eine Wendeltreppe hinunter in die Krypta stieg. Kate folgte ihm langsamer. Hier war es dunkler, das einzige Licht fiel durch Ritzen im Boden der Kapelle. Unaufhörlich tropfte Wasser. In der Mitte des Raums erkannten sie einen einzelnen, intakten Sarkophag aus schwarzem Stein und die zerbrochenen Überreste von einigen anderen. Den Deckel des intakten Sarkophags zierte ein in Stein gemeißelter Ritter. Kate sah sich das Gesicht des Ritters an, aber der Stein war wegen der allgegenwärtigen Feuchtigkeit verwittert und die Züge nicht mehr zu erkennen. »Wie lautete gleich wieder der Schlüssel?« fragte Chris. »Irgendwas mit den Füßen des Riesen?«
»Genau, soundso viele Schritte von den Füßen des Riesen entfernt. Oder von den riesigen Füßen.«
»Von den Füßen des Riesen«, wiederholte Chris. Er deutete auf den Sarkophag, wo die Füße des Ritters als zwei runde Stumpen in die Höhe ragten. »Glaubst du, daß diese Füße gemeint sind?« Kate runzelte die Stirn. »Nicht gerade riesig.« »Nein...«
»Laß es uns trotzdem mal probieren«, sagte sie, stellte sich an das Fußende des Sarkophags, wandte sich nach rechts und ging fünf Schritte. Dann drehte sie sich nach links, ging vier Schritte, dann wieder nach rechts, stand aber bereits nach drei Schritten an der Wand. »Ich schätze, das war's nicht.«
Nun machten sie sich beide ernsthaft auf die Suche. Und Kate machte fast augenblicklich eine ermutigende Entdeckung: ein halbes Dutzend Fackeln, aneinandergelehnt in einer Ecke, wo sie trocken blieben. Die Fackeln waren zwar primitiv, aber sie erfüllten ihren Zweck. »Der Eingang muß hier irgendwo sein«, sagte sie. »Er muß es einfach.« Chris antwortete nicht. Eine halbe Stunde suchten sie schweigend, wischten Moder von Wand und Boden, betrachteten verwit-terte Meißelarbeiten und versuchten zu entscheiden, ob die eine oder die andere die Füße eines Riesen darstellte.
Schließlich fragte Chris: »Hieß es in dem Ding eigentlich, daß sie in der Kapelle sind oder daß sie an der Kapelle sind?« »Ich weiß es nicht«, sagte Kate. »Andre hat es mir vorgelesen. Er hat den Text übersetzt.«
»Vielleicht sollten wir ja draußen suchen.« »Die Fackeln waren hier drinnen.« »Stimmt.«
Chris drehte sich frustriert um und suchte weiter.
»Wenn Marcel einen Schlüssel konstruierte, der von einem
Orientierungspunkt ausging«, sagte Kate, »dann hätte er nie einen Sarg oder einen Sarkophag benutzt, weil man so was bewegen kann. Er hätte irgendwas Unverrückbares benutzt. Etwas an den Wänden.«
»Oder auf dem Boden.«
»Ja, oder auf dem Boden.«
Sie stand an der hinteren Wand, in die kleine Nischen eingelassen waren. Zuerst dachte sie, es wären kleine Altäre, aber sie waren zu klein, und dann entdeckte sie Wachsreste. Offensichtlich dienten diese Nischen zur Aufnahme von Kerzen. Eine ganze Reihe dieser Nischen lief rund um die Wände der Krypta. Das Innere der Nische direkt vor Kate war wunderschön verziert mit der symmetrischen Abbildung von Vogelflügeln, die an den Seitenwänden emporwuchsen. Und die Meißelarbeit sah unversehrt aus, vielleicht weil die Hitze der Kerzen die Moderbildung verhindert hatte. Symmetrisch, dachte sie.
Aufgeregt ging sie zur nächsten Kerzennische. Hier waren zwei Ranken mit Blättern dargestellt. Sie ging die Wände ab und untersuchte jede Nische.
Keine zeigte Füße.
Chris scharrte mit seiner Sohle in weitem Bogen über den Boden und wischte den Moder vom darunterliegenden Stein weg. Er murmelte: »Große Füße, große Füße.«
Sie schaute zu ihm hinüber und sagte: »Ich komme mir echt blöd vor.« »Warum?«
Sie deutete auf die Tür, durch die sie in die Krypta gekommen waren. Der Türstock war früher reich verziert gewesen, jetzt aber verwittert. Doch auch jetzt war noch zu erkennen, was ursprünglich dargestellt gewesen war. Auf beiden Schenkeln des Türstocks waren klumpenartige Formen ausgemeißelt. Genau fünf, der größte am oberen Rand, der kleinste unten. Der größte Klumpen hatte eine Abflachung auf einer Seite, so daß kein Zweifel bestand, was diese Formen darstellen sollten.
Fünf Zehen auf jeder Seite der Tür.
»O Gott«, sagte Chris. »Es ist die ganze verdammte Tür.«
Kate nickte. »Die Füße eines Riesen.«
»Warum hat man so was gemacht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Manchmal wurden an Ein- und Ausgängen abstoßende oder dämonische Abbildungen angebracht. Um die Flucht oder die Vertreibung von bösen Geistern zu symbolisieren.«
Sie gingen schnell zur Tür, und dann zählte Kate fünf Schritte ab, dann vier und schließlich neun. Jetzt stand sie vor einem in die Wand eingelassenen rostigen Eisenring. Sie waren beide aufgeregt über diese
Entdeckung, aber als sie an dem Ring zog, zerbrach er in ihren Händen zu rötlichen Fragmenten.
»Anscheinend haben wir was falsch gemacht.«
»Zähl die Schritte noch einmal ab.«
Sie kehrte zurück und versuchte es mit kleineren Schritten. Rechts, links, wieder rechts. Jetzt stand sie vor einem anderen Abschnitt der Wand. Aber hier war überhaupt nichts zu sehen, nur roher Stein. »Ich weiß nicht, Chris«, sagte sie. »Irgendwas machen wir falsch. Aber ich weiß nicht, was.« Entmutigt streckte sie die Hand aus und stützte sich gegen die Wand.
»Vielleicht sind die Schritte noch immer zu groß«, sagte Chris. »Oder zu klein.«
Chris ging zu ihr und lehnte sich neben ihr an die Wand. »Na komm, wir finden das schon raus.«
»Meinst du?«
»Ja, das schaffen wir.«
Sie lösten sich von der Wand und wollten eben zur Tür zurückkehren, als sie plötzlich hinter sich ein leises Rumpeln hörten. Genau an der Stelle, wo sie eben gestanden hatten, war ein großer Stein im Boden weggeglitten. Eine Steintreppe führte nach unten. Sie hörten das entfernte Rauschen eines Flusses. Die Öffnung klaffte schwarz und unheilvoll. »Bingo«, sagte er.
Im fensterlosen Kontrollraum über dem Transitbereich starrten Gordon und Stern einen Monitor an. Er zeigte in einer Simulation sechs Schilde, wobei fünf davon die verätzten Glasbehälter darstellten und der sechste einen intakten, dessen Verhalten zur Kontrolle ebenfalls simuliert wurde. Noch während sie zusahen, erschienen kleine weiße Punkte auf den beschädigten Schilden.
»Das sind die Positionen der Verätzungspunkte«, sagte Gordon. Neben jedem Punkt erschien eine Gruppe von Zahlen, aber sie waren zu klein, um sie lesen zu können. »Das sind Umfang und Tiefe jeder Verätzung«, erklärte er.