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Aber Sir Guy machte es etwas aus. Er kam sehr langsam die Treppe hoch, drückte die Schulter an die Wand, um so weit wie möglich vom geländerlosen Rand der Stufen entfernt zu sein, und suchte Halt an winzigen Vorsprüngen im Mörtel. Er hatte einen verzweifelten Blick und atmete schwer. Der tapfere Ritter hatte also Höhenangst. Doch offensichtlich nicht genug Angst, um stehenzubleiben, wie Kate sah. Sein Unbehagen schien ihn eher noch wütender zu machen. Er schaute sie mordlustig an.

In der Wand hinter dem Absatz befand sich eine rechteckige hölzerne Tür mit einem runden Guckloch. Der einzige Zweck der Treppe schien dieses Guckloch zu sein, denn von hier aus konnte man in den Festsaal hinunterschauen und alles beobachten, was dort vor sich ging. Kate drückte gegen die Tür und stemmte ihr ganzes Gewicht dagegen, doch sie öffnete sich nicht, sondern das gesamte Rechteck brach aus der Mauer und fiel hinunter in den Saal, und sie wäre beinahe hinterdrein gestürzt. Jetzt war sie im Festsaal.

Sie befand sich hoch oben im mächtigen, unverkleideten Dachgestühl des Saals. Eine Decke war nicht vorhanden, und so schaute sie hinunter auf die Tische zehn Meter unter ihr. Direkt vor ihr war der schwere Mittelbalken, der über die gesamte Länge des Saals lief. Im Abstand von etwa eineinhalb Metern kreuzten ihn Querbalken, die in den beiden Seitenwänden verschwanden. Alle Balken waren üppig mit Schnitzwerk verziert und in Abständen mit schräg und vertikal nach oben führenden Stützstreben versehen.

Ohne zu zögern, trat Kate auf den Mittelbalken. Alle im Saal hatten die Köpfe erhoben, sie zeigten nach oben und hielten den Atem an, als sie Kate auf dem Balken sahen. Sir Oliver rief laut: »Heiliger Gott und Verdammung! Der Gehilfe! Wir sind verraten! Der Magister!«

Er schlug auf den Tisch, sprang auf und starrte wütend zu ihr hoch.

Sie sagte: »Chris! Such den Professor.«

Ein Knistern. »O-kay.«

»Hast du mich verstanden? Chris.«

Nur statisches Rauschen.

Kate lief schnell den Mittelbalken entlang. Trotz der Höhe fühlte sie sich vollkommen sicher. Der Balken war dreißig Zentimeter breit. Kein Problem für sie. Als sie von unten wieder ein Aufstöhnen hörte, drehte sie sich um und sah, daß Sir Guy ebenfalls auf den Mittelbalken getreten war. Er wirkte verängstigt, aber die Tatsache, daß er ein Publikum hatte, stachelte ihn an. Entweder das, oder er wollte vor so vielen Leuten einfach keine Angst zeigen. Guy machte einen zögernden Schritt, fand sein Gleichgewicht und kam dann schnell hinter ihr her. Sein Schwert hielt er locker in der Hand. Er erreichte die erste vertikale Strebe, atmete einmal tief durch, hielt sich an dem stehenden Balken fest und schwang seinen Körper herum. Dann ging er auf dem Mittelbalken weiter.

Kate erkannte nun, daß der Mittelbalken zu breit, zu einfach für ihn war. Sie bog auf einen Querbalken ab und ging auf die Seitenwand zu. Dieser Querbalken war nur etwa fünfzehn Zentimeter breit, hier hatte Sir Guy sicher mehr Schwierigkeiten. Sie kletterte um eine schwierige Sparrenkonstruktion herum und ging weiter. Erst jetzt erkannte sie ihren Fehler.

Im allgemeinen besaßen solche mittelalterlichen offenen Dachstühle an der Wand, wo das Gestühl aufsaß, noch irgendein bauliches Detail — eine Längsstrebe, einen Schmuckbalken, irgendeine Stützkonstruktion, auf der sie hätte entlanglaufen können. Aber hier zeigte sich der französische Stil. Der Querbalken lag direkt auf der Mauer auf, in einer Kerbe einen guten Meter unterhalb des Dachrands. Es gab keine an der Wand befestigten Bauteile. Jetzt fiel ihr ein, daß sie in den Ruinen von La Roque gestanden und diese Kerben gesehen hatte. Wo hatte sie nur ihre Gedanken? Sie saß auf dem Balken fest.

Weiter konnte sie nicht gehen, weil der Balken an der Wand endete. Zurück in die Mitte konnte sie ebenfalls nicht, weil dort Guy auf sie wartete. Und der nächste Querbalken war so gut wie unerreichbar, weil er eineinhalb Meter entfernt war, sehr, sehr weit für einen Sprung.

Nicht unmöglich, aber sehr weit. Vor allem ohne Sicherheitsleine. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Guy auf dem Querbalken auf sie zukam. Er balancierte vorsichtig, das Schwert in seiner Hand schwang leicht hin und her. Und er grinste grimmig. Er wußte, daß sie in der Falle saß.

Jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr. Sie schaute zum nächsten Querbalken hinüber, eineinhalb Meter entfernt. Sie mußte es tun. Das Problem war, genug Höhe zu bekommen. Sie mußte hochspringen, wenn sie es zum nächsten Balken schaffen wollte.

Guy arbeitete sich gerade um die Sparrenkonstruktion herum. Er war nur noch Sekunden von ihr entfernt. Sie kauerte sich hin, holte einmal tief Luft, spannte die Muskeln an - und stieß sich mit den Füßen vom Balken ab. Ihr Körper flog durch die Luft.

Chris stieg aus der steinernen Falltür. Er schaute durchs Feuer und sah, daß jeder im Saal zur Decke hochschaute. Er wußte, daß Kate dort oben war, aber er konnte nichts für sie tun. Schnell ging er zu der Tür in der Stirnseite und versuchte, sie zu öffnen. Als sie sich nicht rührte, stemmte er sein ganzes Gewicht dagegen, und sie bewegte sich ein paar Zentimeter. Er drückte noch einmal, die Tür knarzte und schwang auf. Er trat hinaus in den inneren Burghof von La Roque. Soldaten liefen wild durcheinander. In einem der Wehrgänge, den hölzernen Galerien, die oben an der Mauerkrone entlangliefen, war ein Feuer ausgebrochen. Und in der Mitte des Hofs brannte etwas wie ein Scheiterhaufen. In dem ganzen Chaos achtete niemand auf ihn. . Er sagte: »Andre. Bist du da?« Statisches Rauschen. Sonst nichts. Er probierte es noch einmal. »Andre? Hallo?« Wieder nichts.

Doch dann: »Ja.« Es war Andres Stimme. »Andre? Wo bist du?«

»Beim Professor.« »Wo?« fragte Chris. »In der Munitionskammer.' »Wo ist die?«

In dem Lagerraum befanden sich zwei Dutzend Käfige mit Tieren, vorwiegend Katzen, aber auch einige Mäuse und Meerschweinchen. Es roch nach Fell und Fäkalien. Gordon führte Stern einen Zwischengang hinunter und sagte: »Wir halten die Gespaltenen von den anderen isoliert. Das muß sein.«

An der hinteren Wand sah Stern drei Käfige. Die Stangen dieser Käfige waren ziemlich dick. Gordon führte ihn zu einem, in dem er nur ein kleines, zusammengerolltes Fellknäuel sah. Es war eine schlafende

Katze, eine silbergraue Perserkatze.

»Das ist Wellsey«, sagte Gordon mit einem Nicken.

Die Katze wirkte völlig normal. Sie atmete im Schlaf langsam und sanft. Nur eine Gesichtshälfte war in dem Fellknäuel zu sehen. Die

Pfoten waren dunkel. Stern wollte näher herangehen, aber Gordon legte ihm die Hand auf die Brust. »Nicht zu nahe«, sagte er.

Gordon nahm sich einen Stecken und fuhr damit an den Käfigstangen entlang.

Das sichtbare Auge öffnete sich. Nicht langsam und träge — es sprang förmlich auf und schien sofort hellwach. Die Katze rührte sich nicht, streckte sich nicht. Nur das Auge bewegte sich. Gordon fuhr mit dem Stock ein zweites Mal über die Stangen. Mit einem wütenden Fauchen warf sich die Katze gegen die Stangen, das Maul weit aufgerissen, die Zähne gefletscht. Sie krachte gegen die Stangen, sprang zurück und griff wieder an — und immer und immer wieder, erbarmungslos, ohne Pause, knurrend und fauchend. Stern starrte entsetzt in den Käfig.

Das Gesicht des Tiers war gräßlich entstellt. Eine Seite wirkte normal. Doch die andere hing deutlich tiefer, das Auge, das Nasenloch, alles war tiefer, so daß quer durch die Mitte eine Linie verlief, die die beiden Seiten trennte. Deshalb nennen sie sie »gespalten«, dachte er. Aber schlimmer noch war das, was sich hinter der tieferen Gesichtshälfte befand und was Stern bei dem hektisch auf und ab springenden Tier zunächst nicht gesehen hatte: Seitlich am Kopf, hinter dem entstellten Ohr, befand sich noch ein drittes Auge, kleiner als die anderen und nur zum Teil ausgebildet. Und unter diesem Auge war ein Stück Nase zu erkennen, und darunter ein vorspringendes Kieferfragment, das wie ein Tumor aus der Kopfseite herauswuchs. Ein Bogen weißer Zähne ragte aus dem Fell, aber es gab kein Maul. Transkriptionsfehler. Jetzt begriff er, was das bedeutete. Wieder und wieder sprang die Katze gegen die Stäbe, ihr Gesicht blutete bereits vom wiederholten Aufprall. Gordon sagte: »Er macht so weiter, bis wir gehen.«