»Dann sollten wir verschwinden«, sagte Stern.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte Gordon: »Es ist nicht nur das, was man sieht. Es gibt auch mentale Veränderungen. Das waren die ersten feststellbaren Veränderungen bei der Person, die gespalten wurde.«
»Ist das derjenige, von dem Sie mir erzählt haben? Der in der Vergangenheit geblieben ist?«
»Ja«, sagte Gordon. »Deckard, Rob Deckard. Er war einer unserer Marines. Lange bevor wir Veränderungen an seinem Körper feststellen konnten, zeigte er schon mentale Veränderungen. Aber wir begriffen erst später, daß Transkriptionsfehler die Ursache dafür waren.« »Was für mentale Veränderungen?«
»Ursprünglich war Rob ein fröhlicher Kerl, ein sehr guter Athlet und äußerst sprachbegabt. Er konnte einfach mit einem Fremden beim Bier sitzen, und wenn er das Bier ausgetrunken hatte, hatte er auch schon die ersten Brocken der Sprache aufgeschnappt. Sie wissen schon, hier einen Ausdruck, dort ein Wort. Er fing dann einfach an zu reden. Immer mit perfektem Akzent. Nach ein paar
Wochen konnte er reden wie ein Muttersprachler. Bei den Marines wurde dieses Talent entdeckt, und sie schickten ihn auf eine ihrer Sprachschulen. Aber mit der Zeit akkumulierten sich bei Rob die Fehler, und er war plötzlich nicht mehr so fröhlich. Er wurde bösartig«, sagte Gordon. »Wirklich bösartig.« »Ja?«
»Hier bei uns verprügelte er einen Wachposten, nur weil der zu lange brauchte, um seinen Ausweis zu kontrollieren. Und in einer Bar in Albuquerque brachte er einen Mann fast um. Zu der Zeit erkannten wir, daß Deckard einen permanenten Hirnschaden davongetragen hatte und daß das nicht mehr besser, sondern eher noch schlimmer werden würde.«
Im Kontrollraum fanden sie Kramer vor dem Monitor. Gebannt starrte sie die Feldfluktuationen auf dem Bildschirm an. Sie kamen jetzt immer stärker. Und die Techniker sagten, daß mindestens drei zurückkamen, vielleicht sogar vier oder fünf. Kramer sah man deutlich an, daß sie innerlich zerrissen war; ihr persönlich wäre es am liebsten, wenn sie alle zurückkämen.
»Ich glaube noch immer, daß der Computer falsch liegt und die Schilde halten«, sagte Gordon. »Auf jeden Fall können wir jetzt die Schilde füllen und schauen, ob sie halten.«
Kramer nickte. »Ja, das könnten wir tun. Aber auch wenn sie sich füllen lassen, ohne zu bersten, kann es passieren, daß sie später platzen, vielleicht mitten im Transit. Und das wäre eine Katastrophe.« Stern rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Irgend etwas quälte ihn, ließ ihm keine Ruhe. Als Kramer »platzen« sagte, kamen ihm wieder Autos in den Sinn, dieselbe Bilderfolge wie zuvor. Autorennen. Riesige Lastwagenreifen. Der Michelin-Mann. Ein großer Nagel auf der Straße, und ein Reifen, der darüberfuhr. Platzen.
Die Tanks konnten platzen. Reifen konnten platzen. Warum ging ihm dieser Begriff nicht mehr aus dem Kopf?
»Um das noch durchzuziehen«, sagte Kramer, »müßten wir irgendwie die Schilde verstärken.«
»Soweit waren wir auch schon«, sagte Gordon. »Aber es gibt einfach keine Möglichkeit.«
Stern seufzte. »Wieviel Zeit haben wir noch?«
Der Techniker sagte: »Noch einundfünfzig Minuten, und die Zeit läuft.«
Zu Kates Verwunderung kam von unten Applaus. Sie hatte den Sprung geschafft, jetzt hing sie mit den Händen am Balken und baumelte hin und her. Und unten wurde geklatscht, als wäre das Ganze eine Zirkusnummer.
Sie schwang die Beine hoch und zog sich auf den Balken.
Guy Malegant auf dem Querbalken hinter ihr eilte zum Mittelbalken zurück. Er hatte offensichtlich vor, ihr den Weg abzuschneiden.
Sie lief auf dem Querbalken zur Mitte. Da sie behender war als Guy,
erreichte sie den breiten Mittelbalken lange vor ihm. So blieb ihr ein
Augenblick Zeit, um sich zu sammeln und zu überlegen, was sie tun sollte.
Was konnte sie tun?
Sie stand auf dem Mittelbalken und hielt sich an einer dicken vertikalen Strebe fest, die etwa den doppelten Umfang eines Telefonmastes hatte. Auf halber Höhe der Strebe ragten auf beiden Seiten Sparren schräg zum Dach. Diese Sparren waren so niedrig, daß Sir Guy sich, wenn er zu ihr auf die andere Seite des Mittelbalkens wollte, geduckt unter ihnen hindurchhangeln mußte.
Kate bückte sich, um auszuprobieren, wie es sich anfühlte, unter den Sparren hindurchzuklettern. Es war schwierig, und Guy würde eine ganze Weile brauchen. Als sie sich wieder aufrichtete, streifte ihre Hand den Dolch. Den hatte sie völlig vergessen. Sie zog ihn aus der Scheide und richtete die Spitze nach vorn.
Guy sah es und lachte. Und die Zuschauer unten am Boden fielen in sein Lachen mit ein. Guy rief ihnen etwas zu, und sie lachten noch lauter.
Kate sah, wie er näher kam, und wich ein Stück zurück. Sie ließ ihm Platz, damit er sich unter den Sparren hindurchhangeln konnte. Um ihn zu täuschen, versuchte sie verängstigt auszusehen — was nicht schwierig war — und kauerte sich hin. Der Dolch in ihrer Hand zitterte. Alles eine Frage des Timings, dachte sie.
Sir Guy blieb auf der anderen Seite der Strebe kurz stehen und sah ihr zu. Dann duckte er sich und begann, unter den Sparren hindurchzukriechen. Seinen rechten Arm hatte er um die Strebe geschlungen, so daß die Hand sein Schwert an das Holz preßte. Kate sprintete los, stach mit dem Dolch nach seiner Hand und nagelte sie an die Strebe. Dann schwang sie sich um den Sparren herum und kickte seine Füße vom Mittelbalken. Guy baumelte in der Luft, nur gehalten von seiner an die Strebe genagelten Hand. Er biß die Zähne zusammen, gab aber keinen Ton von sich. O Gott, waren diese Kerle zäh!
Ohne das Schwert loszulassen, versuchte er, die Füße wieder auf den
Balken zu bekommen. Doch sie hatte sich schon wieder zurückgeschwungen und stand nun erneut auf ihrer Seite des Balkens.
Ihre Blicke trafen sich.
Er wußte, was sie vorhatte.
»Verfaule in der Hölle«, sagte er.
»Du zuerst«, entgegnete sie.
Sie zog den Dolch aus dem Holz. Guy fiel stumm in die Tiefe, sein Körper wurde immer kleiner. Auf halber Höhe traf er eine Fahnenstange, die gußeiserne Stange bohrte sich in seinen Körper, und einen Augenblick lang hing er in der Luft. Doch dann brach die Stange, und er krachte auf den Tisch. Geschirr flog, die Gäste sprangen zurück. Guy lag inmitten von Scherben und rührte sich nicht mehr. Oliver zeigte zu Kate hoch und schrie: »Tötet ihn! Tötet ihn!« Der Schrei wurde von anderen im Saal aufgenommen. Bogenschützen rannten davon, um ihre Waffen zu holen.
Oliver wollte nicht warten. Wütend stürmte er, gefolgt von einigen Soldaten, aus dem Saal.
Kate hörte die Stimmen von Hofdamen, Kindern und vielen ändern, die sich alle zu einem Sprechchor vereinigten: »Tötet ihn!«, und sie rannte den Mittelbalken entlang zur gegenüberliegenden Stirnseite des Saals. Pfeile zischten an ihr vorbei und gruben sich ins Holz. Aber sie kamen zu spät; Kate sah, daß sich an dieser Seite ebenfalls eine Tür befand, sie warf sich dagegen, wuchtete sie auf und stolperte in die Dunkelheit.
Es war ein sehr enger Raum. Sie stieß sich den Kopf am Dach an und erkannte plötzlich, daß sie sich am Nordende der großen Halle befand, das nicht an die Burgmauer anschloß, sondern freistehend war. Deshalb...
Sie stemmte sich gegen das Dach, und ein Teil löste sich. Im nächsten Moment kletterte sie aufs Dach und von dort mühelos auf die Krone der inneren Burgmauer.