Jetzt sah sie, daß die Belagerung bereits in vollem Gange war. Garben brennender Pfeile zischten in flachen Bögen über ihren Kopf und landeten im Innenhof. Bogenschützen an der Brustwehr erwiderten das Feuer. Auf der Mauerkrone wurden Kanonen mit Metallpfeilen geladen, und de Kere marschierte auf und ab und bellte Befehle. Er bemerkte sie nicht.
Sie wandte sich ab, tippte sich ans Ohr und sagte: »Chris?«
De Kere wirbelte, die Hand ans Ohr gelegt, herum. Hektisch schaute er sich um, suchte die Mauerkrone ab, starrte hinunter in den Hof.
Es war de Kere, der den Ohrstöpsel hatte.
Und dann sah de Kere sie. Er erkannte sie sofort.
Kate rannte los.
Chris fragte: »Kate? Ich bin hier unten.« Brennende Pfeile regneten in den Hof. Er winkte zu ihr hoch, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn von der Mauer aus hier unten in der Dunkelheit erkennen konnte. Sie sagte: »Es ist —«, aber der Rest ging in Rauschen unter. Chris hatte sich inzwischen abgewandt und sah zu, wie Oliver mit vier Soldaten den Burghof überquerte und in einem quadratischen Gebäude verschwand, von dem er annahm, daß es die Munitionskammer war. Chris wollte ihnen gerade folgen, als eine brennende Kugel vor seinen Füßen landete, abprallte und dann ausrollte. Durch die Flam-men hindurch sah er, daß es ein menschlicher Kopf war, mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen. Das Fleisch brannte, das Fett brutzelte. Ein vorbeilaufender Soldat kickte ihn weg wie einen Fußball.
Einer der brennenden Pfeile, die in den Hof regneten, streifte seine Schulter und hinterließ eine Flammenspur auf seinem Ärmel. Chris roch das Pech und spürte die Hitze auf Arm und Gesicht. Er warf sich auf den Boden, aber das Feuer ging nicht aus. Es schien zu schwelen, die Hitze wurde schlimmer. Schnell kniete er sich hin und schlitzte mit seinem Dolch das Wams auf. Dann riß er sich das brennende Stück vom Leib und warf es beiseite. Auf seinem Handrücken brannten noch winzige Tropfen Pech. Er wischte die Hand im Staub des Hofes ab. Endlich ging das Feuer aus.
Noch auf den Knien sagte er: »Andre? Ich komme.« Aber er bekam keine Antwort. Beunruhigt sprang er auf und sah gerade noch, wie
Oliver wieder aus der Munitionskammer kam und Marek und den
Professor von seinen Soldaten abführen ließ. Mit den Spitzen ihrer
Schwerter trieben sie die beiden zu einer entfernten Tür in der
Burgmauer. Nervös blickte ihnen Chris hinterher. Ihn beschlich das unbehagliche Gefühl, daß Oliver sie töten wollte.
»Kate.«
»Ja, Chris.«
»Ich kann sie sehen.«
»Wo?«
»Sie gehen zu der Tür da hinten in der Ecke.«
Er folgte ihnen, merkte aber, daß er eine Waffe brauchte. Ein Stückchen neben ihm traf ein brennender Pfeil einen Soldaten in den Rücken und warf ihn mit dem Gesicht in den Staub. Chris bückte sich, nahm dem Mann das Schwert ab und wollte weitergehen. »Chris.«
Eine Männerstimme im Ohrstöpsel. Eine unvertraute Stimme, die er nicht erkannte. Chris schaute sich um, sah aber nur rennende Soldaten, Brandpfeile, die durch die Luft surrten, einen brennenden Burghof. »Chris.« Die Stimme war sanft. »Hier bin ich.«
Durch die Flammen sah er eine dunkle Gestalt, die bewegungslos wie eine Statue auf der anderen Seite des Hofs stand und zu ihm herüberstarrte. Der dunkle Schemen ignorierte das Kampfgetümmel um ihn herum. Er starrte Chris gebannt an. Es war Robert de Kere. »Chris. Weißt du, was ich will?« fragte de Kere. Chris antwortete nicht. Nervös hob er das Schwert und spürte das Gewicht in seiner Hand. De Kere sah ihm nur zu. Er kicherte leise. »Willst du gegen mich kämpfen, Chris?« Und dann kam de Kere auf ihn zu.
Chris atmete tief durch, er wußte nicht, ob er bleiben oder da-vonrennen sollte. Plötzlich sprang eine Tür hinter dem Festsaal auf, und ein Ritter in voller Rüstung, doch ohne Helm, kam heraus und brüllte: »Für Gott und den Erzpriester Arnaut!« Chris erkannte ihn sofort, es war Raimondo, der gutaussehende Ritter. Dutzende Soldaten in Grün und Schwarz strömten in den Burghof und verwickelten Olivers Männer in hitzige Gefechte.
De Kere kam immer noch auf ihn zu, doch nun blieb er stehen, anscheinend verunsichert von dieser neuen Entwicklung. Plötzlich packte Arnaut Chris am Hals und hob sein Schwert. Er zog ihn zu sich und rief: »Oliver! Wo ist Oliver?« Chris deutete zu der entfernten Tür. »Führt mich hin.«
Chris ging mit Arnaut über den Hof und durch die Tür. Eine Wendeltreppe führte nach unten, und sie kamen zu einer Reihe unterirdischer Kammern. Es waren große und düstere Räume mit hohen Gewölbedecken.
Keuchend und mit blutunterlaufenem Gesicht lief Arnaut nun voraus. Chris hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie kamen durch eine zweite Kammer, die leer war wie die erste. Aber jetzt hörte Chris Stimmen. Und eine davon klang wie die des Professors.
Die computergenerierten Feldlinien auf dem Monitor im Kontrollraum zeigten seit einiger Zeit Zacken. Kramer nagte an der Unterlippe und sah zu, wie die Zacken höher und breiter wurden. Sie trommelte mit dem Finger auf den Tisch. Schließlich sagte sie: »Okay, laßt uns wenigstens die Tanks füllen. Mal sehen, was sie machen.« »Gut«, sagte Gordon mit erleichterter Miene. Er nahm das Funkgerät zur Hand und fing an, den Technikern unten im Transitbereich Anweisungen zu geben.
Stern sah auf dem Videomonitor zu, wie dicke Schläuche zum ersten der leeren Schilde gezerrt wurden. Männer legten Leitern an die Tanks und stiegen mit den Schläuchen hinauf. »Ich glaube, das ist das Beste«,
sagte Gordon. »Wenigstens können —«
Stern sprang plötzlich auf. »Nein«, sagte er. »Tun Sie es nicht.«
»Was?«
»Füllen Sie die Tanks nicht.«
Kramer starrte ihn an. »Warum nicht. Was kann -«
»Tun Sie es nicht!« sagte Stern. In dem kleinen Kontrollraum klang es fast wie ein Schrei. Auf dem Monitor sah man, wie die Männer die
Hähne über die Einlaßöffnung hielten. »Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören! Kein Wasser in den Tank! Nicht einen Tropfen!«
Gordon gab den Befehl über Funk weiter. Die Techniker sahen
überrascht hoch, aber sie hielten inne und kletterten mit den Schläuchen wieder zu Boden.
»David«, sagte Gordon sanft. »Ich glaube, wir müssen —« »Nein«, sagte Stern. »Wir füllen die Tanks nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil das Wasser den Kleber ruiniert.« »Den Kleber?«
»Ja«, sagte er. »Ich weiß, wie wir die Tanks verstärken können.« Kramer sagte: »Im Ernst? Wie?«
Gordon wandte sich dem Techniker zu. »Wieviel Zeit noch?« »Fünfunddreißig Minuten.«
Er wandte sich wieder an Stern. »Nur noch funfunddreißig Minuten, David. Wir haben keine Zeit mehr, um noch irgendwas zu tun.« »Doch, haben wir«, sagte Stern. »Die Zeit reicht gerade noch. Wenn wir uns sehr beeilen.«
Kate lief hinunter in den inneren Burghof von La Roque und zu der Stelle, wo Chris eben noch gestanden hatte. Aber Chris war verschwunden. »Chris?«
Aus ihrem Ohrstöpsel kam keine Antwort. Und er hat die Keramik, dachte sie.
Überall auf dem Hof lagen brennende Leichen. Sie lief von einer zur anderen, um zu sehen, ob Chris darunter war.
Ihr Blick fiel auf Raimondo, der ihr zunickte und winkte — und dann erschauderte sie. Einen Augenblick lang dachte sie, es liege an den Hitzewellen der Flammen, aber dann drehte sich Raimondo um, und sie sah, daß er aus der Seite blutete. Ein Mann stand hinter ihm, der mit seinem Schwert immer wieder auf ihn einhackte, auf den Arm, die Schulter, den Oberkörper, die Beine. Jeder Hieb war kräftig genug, um tiefe Wunden zu schneiden, aber nicht, um zu töten. Heftig blutend taumelte Raimondo rückwärts. Der Mann rückte, weiter auf ihn einhackend, vor. Raimondo sank auf die Knie. Der Mann stand jetzt über ihm, doch er schlug weiter auf ihn ein. Schließlich kippte Raimondo nach hinten, und der Mann zerschnitt ihm das Gesicht, zog sein Schwert diagonal über Lippen und Nase, so daß Fleischfetzen davonspritzten. Das Gesicht des Angreifers war durch die Flammen nicht zu sehen, aber Kate hörte ihn bei jedem Hieb »Bastard, Bastard, Bastard« rufen. Er sprach modernes Englisch. Und dann wußte sie, wer der Mann war. Der Angreifer war de Kere.