Chris fragte: »Wie bist du überhaupt auf diesen Ort gestoßen, Elsie?« »Natürlich bei meinen Recherchen in den alten Dokumenten«, sagte sie. »In den Troyes-Archiven gab es einen Hinweis auf einen wohlhabenden englischen Briganten namens Andrew d'Eltham, der in seinen späteren Jahren dem Kloster von Sainte-Mere einen Besuch abstattete. Er brachte seine ganze Familie aus England mit, seine Frau und seine erwachsenen Söhne. Das hat mich dazu gebracht, weiterzusuchen.«
»Hier«, sagte Johnston und richtete den Strahl seiner Lampe auf den Boden.
Sie traten zu ihm.
Abgebrochene Äste und eine Schicht feuchten Laubs bedeckte den Boden. Johnston hatte sich hingekniet und wischte alles weg. Zwei verwitterte, in den Boden eingelassene Grabplatten kamen zum Vorschein. Chris hielt den Atem an, als er die erste sah. Eine Frau war darauf dargestellt, in züchtigen langen Gewändern, auf dem Rücken liegend. Es war unverkennbar Lady Claire. Im Gegensatz zu vielen solcher Grabplatten war Claire hier mit offenen Augen dargestellt, die den Betrachter unverhüllt anstarrten.
»Noch immer schön«, sagte Kate, den Rücken durchgedrückt, die Hand in die Seite gestemmt.
»Ja«, sagte Johnston. »Noch immer schön.«
Nun legten sie die zweite Grabplatte frei. Neben Lady Claire sahen sie Andre Marek liegen. Auch er hatte die Augen offen. Marek sah älter aus, mit einer Furche auf einer Gesichtshälfte, die eine Altersfalte sein konnte oder eine Narbe.
Elsie sagte: »Den Dokumenten zufolge geleitete Andrew Lady Claire von Frankreich nach England und heiratete sie später. Er scherte sich nicht um die Gerüchte, daß Claire ihren ersten Gatten ermordet habe. Nach allen Berichten liebte er seine Frau sehr. Sie hatten fünf Söhne und waren ihr ganzes gemeinsames Leben lang unzertrennlich. Im Alter«, sagte Elsie, »verlegte der alte Kämpe sich auf ein geruhsames Leben und widmete sich seinen Enkeln. Andrews letzte Worte waren: >Ich habe ein gutes Leben gewählt. Er wurde im Juni 1382 in der Familienkapelle begraben.«
»Dreizehnzweiundachtzig«, sagte Chris. »Er wurde also vierundfünfzig.«
Johnston wischte den Rest des Steins sauber. Sie sahen Mareks Schild: ein stolzierender englischer Löwe in einem Feld französischer Lilien. Über dem Schild standen französische Worte.
Elsie las vor: »Sein Familienmotto, in Anlehnung an Richard Löwenherz, steht über dem Wappenschild: >Mes compagnons: cui jamoie et cui j'aim ... Me dii, chanson.< Sie hielt inne und übersetzte dann: >Gefährten, die ich liebte und die ich noch immer liebe... Sag ihnen, mein Lied.<«
Lange starrten sie Andres Bildnis schweigend an. Johnston strich mit den Fingern über die steinernen Umrisse von Mareks Gesicht. »Nun ja«, sagte er schließlich, »wenigstens wissen wir, was passiert ist.«
»Glaubst du, daß er glücklich war?« fragte Chris. »Ja«, antwortete Johnston. Aber er dachte, wie sehr Marek diese Welt auch geliebt haben mochte, ganz die seine konnte sie wohl nie gewesen sein. Nicht wirklich. Er mußte sich immer wie ein Fremder vorgekommen sein, isoliert von seiner Umgebung, weil er aus einer anderen Zeit gekommen war.
Der Wind heulte. Ein paar Blätter wehten über den Boden. Die Luft war feucht und kalt. Sie standen stumm da.
»Ich frage mich, ob er je an uns dachte«, sagte Chris und betrachtete das steinerne Gesicht. »Ob er uns vermißte.«
»Natürlich«, sagte der Professor. »Vermißt du ihn nicht?«
Chris nickte. Kate schniefte und schneuzte sich.
»Ich vermisse ihn«, sagte Johnston.
Sie gingen wieder nach draußen und den Hügel hinunter zum Auto. Inzwischen hatte der Regen völlig aufgehört, aber die Wolken, die tief über den fernen Hügeln hingen, waren noch immer dunkel und schwer.
Danksagungen
Unser Verständnis des Mittelalters hat sich in den letzten fünfzig Jahren dramatisch verändert. Obwohl man noch immer einige selbstgefällige Wissenschaftler vom dunklen Zeitalter sprechen hört, haben moderne Erkenntnisse solche Vereinfachungen längst über den Haufen geworfen. Eine Zeit, die früher als statisch, grausam und rückständig betrachtet wurde, wird jetzt als dynamisch gesehen, als eine Zeit rasanter Entwicklungen, in der Wissen gesucht und geschätzt wurde, in der große Universitäten gegründet wurden und man das Lernen förderte, in der mit Begeisterung neue Techniken entwickelt und angewandt wurden, in der alle gesellschaftlichen Beziehungen im Fluß waren und in der das allgemeine Niveau der Gewalt oft weniger tödlich war als heute. Was den überkommenen Ruf des Mittelalters als dunkle Zeit der Beschränktheit, der religiösen Vorurteile und des massenhaften Abschlachtens angeht, so muß die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts jeden nachdenklichen Beobachter zu dem Schluß führen, daß wir in keiner Weise besser sind.
Genau genommen war die Vorstellung vom grausamen Mittelalter eine Erfindung der Renaissance, deren Vertreter sich bemühten, einen neuen Geist herauszustellen, auch wenn dies auf Kosten der Fakten ging. Wenn die Vorstellung vom rückständigen Mittelalter sich als hartnäckiges Vorurteil erweist, so mag das daran liegen, daß es einen Glauben zu bestätigen scheint, von dem die moderne Welt nicht lassen will - der Glaube nämlich, daß unsere Art sich immer weiterentwickelt, hin zu einem besseren und erleuchteteren Leben. Dieser Glaube ist ein reines Phantasieprodukt, aber als solches äußerst zählebig. Dem modernen Menschen fällt es besonders schwer, sich vorzustellen, daß unsere heutige, wissenschaftliche Zeit keine Verbesserung sein könnte gegenüber einer vorwissenschaftlichen Periode.
Noch ein Wort zum Zeitreisen. Es stimmt zwar, daß Quantenteleportation in Labors auf der ganzen Welt demonstriert wurde, die praktische Anwendung eines solchen Phänomens liegt jedoch in ferner Zukunft. Die in diesem Buch vorgestellten Ideen wurden von Spekulationen angeregt, die, unter anderen, David Deutsch, Kip Thorne, Paul Nahin und Charles Bennett angestellt haben. Was hier beschrieben wird, mag sie amüsieren, aber sie würden es nicht ernst nehmen. Das vorliegende Buch ist ein Roman. Zeitreisen gehört eindeutig ins Reich der Phantasie.
Die Darstellung der mittelalterlichen Welt jedoch ruht auf einer gesicherteren Basis, und dafür bin ich der Arbeit vieler Gelehrter verpflichtet, von denen einige in der nachfolgenden Bibliographie aufgeführt sind. Fehler sind die meinen, nicht die ihren. Dankbar bin ich darüber hinaus Catherine Kanner für die Illustrationen und Brant Gordon für die computergenerierten Architekturskizzen. Schließlich geht mein besonderer Dank an den Historiker Bart Vranken für die unschätzbaren Einblicke, die er mir gewährte, und für seine Begleitung auf meinen Streifzügen durch kaum bekannte und vergessene Ruinen des Perigord.
Bibliographie
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War c. 1300—c.1450, Cambridge, Eng.: Cambridge University Press, 1988. Anonym, Lancelot -HI, Hrsg. R. Kluge, Berlin (DDR) 19481974. Artz, Frederick B., The Mind of the Middle Ages: An Historical Sur-
vey, A.D. 200—1500, Chicago: University of Chicago Press,
1980. Ayton, Andrew, Knights and Warhorses: Military Service and the English
Aristocracy under Edward III., Woodbridge, Eng.: Boydell Press, 1994. Barber, Richard, Edward, Prince of Wales and Aquitaine, Woodbridge,
Eng.: Boydell Press, 1996. — ed. and trans. The Life and Campaigns ofthe Black Prince, London: Folio Society, 1979.
- and Juliet Barker, Tournaments, Woodbridge, Eng.: Boydell Press, 1989.
Bentley, James, FortTowns of France: The Bastides ofthe Dordogne and Aquitaine, London: Tauris Parke, 1993.