»Da wird aber viel gegraben.«
»Ja, das ist unsere wichtigste Grabungsstätte.«
Im Überfliegen erkannte Diane die großen quadratischen Gruben, mit denen sich die Forscher Zugang zu den Katakomben unter dem Kloster verschafften. Sie wußte, daß sich auf diese das Hauptaugenmerk richtete, weil man hoffte, hier noch weitere Verstecke mit klösterlichen Dokumenten zu finden; eine ganze Reihe hatte man bereits entdeckt. Der Hubschrauber schwenkte wieder und näherte sich den Kalksteinabhängen auf der französischen Seite sowie einer kleinen Stadt. Dann stieg er über den Rand des Steilufers.
»Wir kommen jetzt zur vierten und letzten Grabungsstätte«, sagte Marek. »Die Festung über der Stadt Bezenac. Im Mittelalter hieß sie La Roque. Obwohl sie auf der französischen Seite des Flusses liegt, wurde sie von den Engländern gebaut, die sich damit einen dauerhaften Brückenkopf auf französischem Gebiet sichern wollten. Wie Sie sehen, ist es eine ziemlich ausgedehnte Anlage.«
Das war sie wirklich: ein riesiger militärischer Komplex auf der Anhöhe, mit drei Reihen konzentrischer Mauern, die sich über gut zwanzig Hektar erstreckten. Die Festung von La Roque war in einem besseren Zustand als die anderen Anlagen des Projekts, es gab noch mehr stehende Mauern. Man konnte leichter erkennen, was es einmal gewesen war.
Aber in der Anlage wimmelte es auch von Touristen.
»Sie lassen Touristen hinein?« fragte sie entsetzt.
»Das ist eigentlich nicht unsere Entscheidung«, antwortete Marek. »Wie Sie wissen, ist das eine neue Grabungsstätte, und die französische Regierung wollte, daß sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Aber natürlich schließen wir sie wieder, wenn wir mit der Rekonstruktion beginnen.«
»Und wann wird das sein?«
»Oh... irgendwann in zwei bis fünf Jahren.«
Sie sagte nichts. Der Hubschrauber kreiste und stieg höher.
»So«, sagte Marek. »Wir sind am Ende angelangt. Von hier oben haben Sie einen Überblick über das gesamte Projekt: die Festung La Roque, das Kloster im Flachland, die Mühle und auf der anderen Flußseite die Festung Castelgard. Wollen Sie es noch einmal sehen?«
»Nein«, entgegnete Diane Krämer. »Wir können zurückkehren. Ich habe genug gesehen.«
.Edward Johnston, Professor der Geschichte in Yale, verdrehte die Augen, als der Hubschrauber über ihre Köpfe hinwegdonnerte. Er flog in südlicher Richtung, nach Domme, wo es einen Landeplatz gab. Johnston sah auf die Uhr und sagte: »Laß uns weitermachen, Chris.« »Okay«, erwiderte Chris Hughes. Er wandte sich wieder dem auf ein Stativ montierten Computer zu, steckte den GPS-Empfänger ein und schaltete den Strom ein. »Das Set-up dauert ein wenig.« Christopher Stewart Hughes war einer von Johnstons Doktoranden. Der Professor — alle nannten ihn nur so - hatte insgesamt fünf, die bei dem Projekt arbeiteten, sowie zwei Dutzend Studenten, die seine Einführungsvorlesung über westliche Zivilisation gehört hatten und von ihm fasziniert waren.
Es war leicht, dachte Chris, von Edward Johnston fasziniert zu sein. Obwohl schon gut über sechzig, war er breitschultrig und fit, er bewegte sich schnell, was einen Eindruck von Tatkraft und Energie vermittelte. Gebräunt, mit dunklen Augen und seiner ironischen Art wirkte er oft eher wie Mephistopheles als wie ein Geschichtsprofessor.
Seine Kleidung allerdings entsprach der eines typischen Collegeprofessors: Sogar hier vor Ort trug er jeden Tag Button-Down-Hemd und Krawatte. Sein einziges Zugeständnis an die Arbeit im Gelände waren Jeans und Wanderstiefel.
Was Johnston bei seinen Studenten so beliebt machte, war die Art, wie er sich um sie kümmerte: Einmal pro Woche lud er sie zum Essen zu sich nach Hause ein, er sorgte für sie, und wenn einer von ihnen Probleme mit dem Studium, dem Geld oder der Familie hatte, war er immer bereit, bei der Lösung des Problems zu helfen, ohne sich dabei jedoch aufzudrängen.
Vorsichtig packte Chris den Metallkoffer zu seinen Füßen aus. Zuerst holte er ein durchsichtiges LCD hervor, das er vertikal in die Halterungen über dem Computer montierte. Dann startete er den Computer neu, damit der Rechner den Bildschirm identifizieren konnte. »Jetzt dauert's nur noch ein paar Sekunden«, sagte er. »Der GPS-Empfänger kalibriert.« Johnston nickte geduldig und lächelte.
Chris war Doktorand im Bereich Geschichte der Wissenschaft — ein äußerst kontroverses Gebiet, aber er umging geschickt alle Dispute, indem er sich nicht auf moderne Wissenschaft konzentrierte, sondern auf Wissenschaft und Technik des Mittelalters. So war er Experte für Metallurgie, für Waffenherstellung, Dreifelder-Frucht-wechsel, der Chemie des Gerbens und für ein Dutzend andere Techniken der damaligen Zeit geworden. Er hatte beschlossen, seine Doktorarbeit über die Mühlentechnik des Mittelalters zu schreiben - ein faszinierendes, aber stark vernachlässigtes Gebiet. Und sein besonderes Interesse gehörte natürlich der Mühle von Sainte-Mere.
Johnston wartete gelassen ab.
Chris war Student im zweiten Semester gewesen, als seine Eltern bei einem Autounfall getötet wurden. Chris, ein Einzelkind, war am Boden zerstört; er spielte sogar mit dem Gedanken, das College zu verlassen. Johnston hatte den jungen Studenten für drei Monate in sein Haus aufgenommen und diente ihm auch noch viele Jahre danach als Vaterersatz, der ihm in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand, von der Abwicklung des elterlichen Nachlasses bis hin zu Problemen mit Freundinnen. Und Probleme mit Freundinnen hatte es eine ganze Menge gegeben.
Nach dem tragischen Verlust seiner Eltern hatte Chris sich mit vielen Frauen eingelassen. Die daraus folgende Kompliziertheit seines Lebens — böse Blicke von verschmähten Geliebten in Seminaren; verzweifelte mitternächtliche Anrufe wegen einer ausgebliebe-nen Periode, während er mit einer anderen im Bett war; heimliche Treffen in Hotelzimmern mit einer Philosophiedozentin, die mit-ten in einer schmutzigen Scheidung steckte — prägte bald seinen Tagesablauf. Unweigerlich wurden seine Noten schlechter, und eines Tages nahm Johnston ihn beiseite und redete ihm mehrere Abende lang gut zu.
Doch Chris wollte nicht hören, und bald darauf tauchte sein Name in dem Scheidungsverfahren auf. Nur die persönliche Intervention des Professors verhinderte seine Relegation von Yale. Chris reagierte auf diese plötzliche Krise, indem er sich in seine Studien vergrub; seine Noten wurden schnell besser, und schließlich hatte er sein Diplom als Fünftbester seines Jahrgangs abgelegt. Insgesamt war er seit dieser Zeit viel ruhiger geworden. Jetzt, mit vierundzwanzig, neigte er zu Pedanterie und Magenproblemen. Nur bei Frauen war er immer noch ein Draufgänger.
»Endlich«, sagte Chris. »Es kommt.«
Das LCD zeigte einen Umriß in leuchtendem Grün. Durch den transparenten Monitor waren die Ruinen der Mühle zu sehen, überlagert von dem grünen Umriß. Das war die neueste Methode zur Rekonstruktion archäologischer Strukturen. Früher hatten ihnen nur gewöhnliche Architekturmodelle zur Verfügung gestanden, die aus weißem Styropor bestanden und per Hand ausgeschnitten und zusammengesetzt werden mußten. Aber diese Technik war langsam, Modifikationen waren schwierig.
Inzwischen wurden alle Modelle am Computer erstellt. Die Modelle konnten schnell erzeugt und problemlos verändert werden. Zusätzlich gestattete diese Methode die Betrachtung der Modelle vor Ort und einen präzisen Abgleich mit dem Original. Die Ortskoordinaten der Ruine wurden in den Computer eingespeist, und dank der durch das GPS ermittelten Stativposition war die Darstellung auf dem Monitor genau in der richtigen Perspektive.
Sie sahen zu, wie sich der Umriß füllte und dreidimensionale Gestalt annahm. Die Abbildung zeigte nun eine mächtige Brücke, aus Stein erbaut und überdacht und mit drei Wasserrädern darunter. »Chris«, sagte Johnston, »du hast sie ja befestigt.« Er klang erfreut. »Ich weiß, daß es ein Risiko ist...«, sagte er.
»Nein, nein«, erwiderte der Professor. »Ich halte das für einleuchtend.«