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»Weil wir noch nicht genug wissen, darum«, erwiderte Johnston verärgert. »Schauen Sie: Rekonstruiert haben wir bis jetzt ausschließlich aus Sicherheitsgründen. Wir haben Mauern nur wiederaufgebaut, damit sie unseren Leuten nicht auf den Kopf fallen. Aber wir sind noch nicht soweit, um mit dem Wiederaufbau der gesamten Anlage zu beginnen.«

»Aber doch sicher einem Teil«, sagte sie. »Ich meine, sehen Sie sich das Kloster da drüben an. Die Kirche können Sie doch bestimmt wiederaufbauen, und den Kreuzgang daneben und das Refektorium und...«

»Was?« fragte Johnston. »Das Refektorium?« Das Refektorium war der Speisesaal, in dem die Mönche ihre Mhlzeiten einnahmen. Johnston deutete auf die Ausgrabungsstätte hinunter, wo niedere Mauern und kreuz und quer verlaufende Gräben ein verwirrendes Muster ergaben. »Wer sagt, daß das Refektorium neben dem Kreuzgang liegt?« »Nun, ich —«

»Sehen Sie, das ist genau der Punkt«, sagte Johnston. »Wir sind uns immer noch nicht sicher, wo genau das Refektorium liegt. Seit kurzem verdichten sich die Hinweise darauf, daß es neben dem Kreuzgang liegt, aber sicher sind wir nicht.«

Leicht irritiert erwiderte sie: »Professor, akademische Studien kann man ewig treiben, aber in der realen Welt der Ergebnisse —« »Oh, ich bin sehr für Ergebnisse«, sagte Johnston. »Aber Sinn und Zweck einer Grabung wie dieser ist es doch, daß wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Vor hundert Jahren baute ein Architekt namens Viollet-le-Duc in ganz Frankreich historische Monumente neu auf. Bei einigen ist ihm das gut gelungen. Aber wenn er nicht genügend Informationen hatte, dachte er sich einfach etwas aus. Diese Gebäude waren dann nichts als Produkte seiner Phantasie.« »Ich verstehe ja, daß Sie exakt sein wollen, aber -«

»Wenn ich gewußt hätte, daß ITC! ein Disneyland will, hätte ich nie zugestimmt.«

»Wir wollen kein Disneyland.«

»Wenn Sie jetzt mit dem Wiederaufbau beginnen, bekommen Sie genau das, Ms. Kramer. Ein Phantasieprodukt. Mittelalterland.«

»Nein«, sagte sie. »Ich kann Ihnen hundertprozentig versichern, daß wir kein Phantasieprodukt wollen. Wir wollen eine historisch exakte Rekonstruktion dieser Anlage.«

»Aber das geht nicht.«

»Wir glauben, daß es geht.«

»Wie?«

»Bei allem Respekt, Professor, ich glaube, Sie sind übervorsichtig. Zum Beispiel die Stadt Castelgard, unter der Burg. Die könnte man doch sicher wiederaufbauen.« »Ich schätze... Einen Teil davon, ja.«

»Und mehr verlangen wir ja nicht. Nur, daß Sie einen Teil wiederaufbauen.«

David Stern, der eben das Lagerhaus verließ, fand Chris vor der Tür mit dem Funkgerät am Ohr. »Lauschst du vielleicht, Chris?« »Pst, das ist wichtig.«

Stern zuckte die Achseln. Er betrachtete den Enthusiasmus der Doktoranden um ihn herum immer mit einer gewissen Distanz. Die anderen waren Historiker, er aber hatte eine Ausbildung als Physiker und neigte daher zu einer anderen Betrachtungsweise der Dinge. Er konnte einfach nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn wieder einmal eine mittelalterliche Feuerstelle oder auf einem Friedhof ein paar Knochen gefunden wurden. Diesen Job -Wartung und Bedienung der elektronischen Geräte, Durchführung verschiedener chemischer Analysen, Radiokarbondatierungen und so weiter - hatte er überhaupt nur angenommen, damit er in der Nähe seiner Freundin sein konnte, die einen Ferienkurs in Toulouse besuchte. Fasziniert hatte ihn allerdings die Idee der Quantendatierung, doch bis jetzt hatte das Gerät nicht funktioniert.

Aus dem Funkgerät kam Kramers Stimme: »Und wenn Sie einen Teil der Stadt wiederaufbauen, könnten Sie auch den Teil der äußeren Burgmauer wiederaufbauen, der an die Stadt grenzt. Diesen

Abschnitt hier.« Sie deutete zu einer niedrigen, zerklüfteten Mauer, die in Nord-Süd-Kichtung über das Gelände lief.

Der Professor sagte: »Na ja, ich nehme an, wir könnten ...«

»Und«, fuhr Krämer fort, »Sie könnten die Mauer nach Süden verlängern, dort drüben, wo sie im Wald verschwindet. Sie könnten den

Wald roden und den Turm wiederaufbauen.«

Stern und Chris sahen einander an.

»Wovon redet die denn?« fragte Stern. »Was für einen Turm?« »Bis jetzt hat noch kein Mensch den Wald inspiziert«, sagte Chris. »Wir wollten ihn am Ende des Sommers roden und im Herbst inspizieren lassen.«

Über Funk hörten sie den Professor sagen: »Ihr Vorschlag ist sehr interessant, Ms. Kramer. Lassen Sie ihn mich mit den anderen diskutieren, und dann treffen wir uns zum Mittagessen wieder.« Und dann sah Chris, wie auf der Wiese unter ihnen der Professor sich umdrehte, direkt zu ihnen hochsah und mit dem Finger auf den Wald deutete.

Sie verließen das Ruinenfeld, stiegen eine grüne Anhöhe hoch und betraten den Wald. Die Bäume waren schlank, standen aber dicht beieinander, und unter dem Blätterdach war es dunkel und kühl. Chris Hughes folgte der äußeren Burgmauer, die sich von einem hüfthohen Wall zu einer niederen Geröllspur verflachte und schließlich im Unterholz verschwand.

Von da an mußte er sich bücken und Farne und kleine Pflanzen mit den Händen beiseite schieben, um dem Verlauf der Mauer folgen zu können. Der Wald um sie herum wurde immer dichter. Es war sehr still hier. Als er Castelgard das erste Mal gesehen hatte, war noch fast das gesamte Gelände bewaldet gewesen, die wenigen noch stehenden Mauern waren von Moos und Flechten überwuchert und schienen aus der Erde herauszuwachsen wie organische Formen. Damals hatte die Anlage etwas Geheimnisvolles gehabt. Doch diese Aura war verflogen, als sie das Land rodeten und mit den Ausgrabungen begannen. Stern folgte ihm. Er kam nicht viel aus dem Labor und schien den Ausflug zu genießen. »Warum sind die Bäume so klein?« fragte er.

»Weil es ein junger Wald ist«, antwortete Chris. »Fast alle Wälder im Perigord sind weniger als hundert Jahre alt. Früher war das ganze Land hier gerodet, für Weinberge.« »Und?«

Chris zuckte die Achseln. »Eine Krankheit. Um die Jahrhundertwende zerstörte ein Schädling, die Reblaus, alle Weinstöcke. Und der Wald wuchs nach.« Und dann fugte er hinzu: »Der französische Weinbau wäre fast untergegangen. Gerettet wurde er nur, weil man reblausresistente Weinstöcke importierte, und zwar aus Kalifornien. Etwas, das die Franzosen gern vergessen.«

Während er redete, hob er den Blick nicht vom Erdboden. Anhand von Steinfragmenten, die hier und dort zutage traten, konnte er dem Verlauf der alten Mauer folgen.

Doch plötzlich war die Mauer verschwunden. Er hatte sie völlig aus den Augen verloren. Jetzt mußte er umkehren und ihre Spur wiederaufnehmen.

»Verdammt.«

»Was ist?« fragte Stern.

»Ich finde die Mauer nicht mehr. Sie verlief in dieser Richtung da«, er deutete mit der offenen Hand, »und jetzt ist sie verschwunden.«

Sie standen inmitten von besonders dichtem Unterholz, hohe Farne vermischt mit dornigen Ranken, die ihm die nackten Beine zerkratzten.

Stern trug eine lange Hose, er ging einfach weiter und sagte: »Ich weiß nicht, Chris, irgendwo hier muß sie doch sein...«

Chris wußte, daß er umkehren mußte. Er wollte eben zurückmarschieren, als er Stern schreien hörte.

Chris drehte sich um.

Stern war verschwunden. Einfach nicht mehr da.

Chris stand allein im Wald.

»David?«

Ein Stöhnen. »Ah... verdammt.« »Was ist passiert?«

»Ich hab mir das Knie angestoßen. Tut verdammt weh.«

Chris konnte ihn nirgendwo sehen. »Wo bist du?«

»In einem Loch«, sagte Stern. »Ich bin gefallen. Paß auf, wenn du in meine Richtung kommst. Eigentlich...« Ein Grunzen. Fluchen. »Alles okay. Ich kann stehen. Ich bin in Ordnung. Eigentlich - «!

»Was ist?«

»Wart mal!«

»Was ist denn los?«

»Wart einfach, okay?«

Chris sah Bewegung im Unterholz, die Farne schwankten, Stern bewegte sich offensichtlich nach links. Dann sagte er etwas. Seine Stimme klang merkwürdig. »Ah, Chris?« »Was ist?«