»Nein. Das ist alles.«
»Na, dann vielen Dank«, sagte Wauneka und steckte sich die Keramik in die Tasche. Und dann hielt er kurz inne. »Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und faltete es behutsam auf. »Das haben wir in seiner Kleidung gefunden. Ich habe mich gefragt, ob Sie das schon mal gesehen haben.«
Baker warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt: eine Anordnung von Punkten auf einem Gitternetz. »Nein«, sagte Baker. »Das habe ich noch nie gesehen.«
»Sie haben es ihm also nicht gegeben?« »Nein.«
»Haben Sie eine Ahnung, was es sein könnte?« »Nein«, sagte Baker. »Absolut keine Ahnung.« »Aber ich«, sagte seine Frau. »Wirklich?« fragte der Polizist.
»Ja«, sagte sie. »Wenn Sie gestatten...« Sie nahm dem Polizisten das Papier ab.
Baker seufzte. Liz ließ mal wieder die Architektin heraushängen; eingehend musterte sie das Papier, drehte es und sah sich das Punktmuster von oben und von der Seite an. Baker wußte, warum. Sie versuchte davon abzulenken, daß sie unrecht gehabt hatte, daß das Auto tatsächlich über ein Schlagloch gefahren war und daß sie hier einen ganzen Tag vergeudet hatten. Sie versuchte, diese Zeitverschwendung zu rechtfertigen, ihr irgendwie Bedeutung zu verleihen. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, was es ist. Es ist eine Kirche.« Baker sah sich die Punkte auf dem Papier an. »Das soll eine Kirche sein?« fragte er.
»Na ja, zumindest der Grundriß von einer«, erwiderte sie. »Schau. Das ist die Längsachse des Kreuzes, das Mittelschiff... Siehst du das? Das ist eindeutig eine Kirche, Dan. Und der Rest dieser Abbildung,
die Quadrate in den Quadraten, alles rechtwinklig, das sieht aus... weißt du, das könnte ein Kloster sein.« »Ein Kloster?« fragte der Polizist.
»Ich glaube schon«, sagte sie. »Und was ist mit der Beschriftung hier unten? Ist >klo< nicht eine Abkürzung für Kloster? Bestimmt. Wie gesagt, ich halte das für ein Kloster.« Sie gab dem Polizisten die Abbildung zurück.
Mit übertriebener Geste sah Baker auf seine Uhr. »Wir sollten jetzt wirklich los.«
»Natürlich«, sagte Wauneka, der den Wink verstanden hatte. Er gab ihnen die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Und entschuldigen Sie, daß wir Sie so lange aufgehalten haben. Eine schöne Fahrt noch.« Baker legte seiner Frau den Arm um die Taille und führte sie hinaus ins nachmittägliche Sonnenlicht. Es war kühler geworden, im Osten stiegen Heißluftballons in den Himmel. Gallup war ein Zentrum für Ballonfahrer. Er ging zum Auto. Der Zettel auf der Windschutzscheibe erwies sich als Werbung für einen Türkisschmuckverkauf in einem Geschäft am Ort. Er zog ihn unter dem Scheibenwischer hervor, zerknüllte ihn und stieg ein. Seine Frau saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz und starrte geradeaus. Er ließ den Motor an. »Okay«, sagte sie. »Tut mir leid.« Es klang mürrisch, aber Baker wußte, mehr würde er von ihr nicht bekommen. Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Nein«, sagte er. »Du hast genau das Richtige gemacht. Wir haben dem alten Knaben das Leben gerettet.« Seine Frau lächelte.
Er rollte vom Parkplatz und fuhr in Richtung Highway.
Der alte Mann im Krankenhaus schlief, sein Gesicht zur Hälfte unter einer Sauerstoffmaske versteckt. Jetzt war er ruhig; sie hatte ihm ein leichtes Sedativum gegeben, und er war entspannt und atmete gleichmäßig. Beverly Tsosie stand am Fuß des Betts und besprach den Fall mit Joe Nieto, einem Mescalero-Apachen, der ein fähiger Internist und ein sehr guter Diagnostiker war. »Männlicher Weißer, ungefähr siebzig Jahre alt. Bei der Einlieferung verwirrt, benommen und extrem desorientiert. Leichte kongestive Herzinsuffizienz, etwas erhöhte Leberenzyme, ansonsten nichts.« »Und die haben ihn nicht mit dem Auto angefahren?« »Offensichtlich nicht. Aber komisch ist es schon. Sie sagten, sie hätten ihn nördlich des Corazon Canyon aufgelesen. Aber in zwanzig Kilometer Umkreis ist da rein gar nichts.« »Und?«
»Der Kerl hat absolut keine Expositionssymptome. Keine Dehy-dration, keine Ketose. Er hat nicht einmal Sonnenbrand.«
»Glauben Sie, daß ihn jemand ausgesetzt hat? Jemand, der keine Lust mehr hatte, daß Opa dauernd mit der Fernbedienung rumspielt?«
»Ja, das nehme ich an.«
»Und was ist mit seinen Fingern?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er hat irgendwie ein Durchblutungsproblem. Seine Fingerspitzen sind kalt und stark gerötet, es könnten sich Gangräne entwickeln. Aber was es auch ist, es hat sich verschlimmert, seit er im Krankenhaus ist.« »Ist er Diabetiker?« »Nein.« »Raynaud- Syndrom?« »Nein.«
Nieto stellte sich ans Bett und betrachtete die Finger. »Nur die Fingerspitzen sind betroffen. Die Schädigung ist rein distal.« »Genau«, entgegnete sie. »Wenn man ihn nicht in der Wüste gefunden hätte, würde ich sagen, das sind Erfrierungen.« »Haben Sie ihn auf Schwermetalle untersucht, Bev? Das könnte nämlich eine Schwermetallvergiftung sein. Kadmium oder Arsen. Das würde die Finger erklären und auch seine Demenz.«
»Ich habe ihm Blutproben abgenommen. Aber Schwermetalltests werden nur in der Uniklinik in Albuquerque gemacht. Die Ergebnisse bekomme ich erst nach zweiundsiebzig Stunden.«
»Haben Sie eine Identifizierung, eine Krankengeschichte, sonst irgendwas?«
»Nichts. Wir haben eine Vermißtenanzeige rausgegeben, und wir haben seine Fingerabdrücke für einen Datenbankcheck nach Washington geschickt, aber das kann eine Woche dauern.«
Nieto nickte. »Und dieses erregte Geplapper? Was hat er gesagt?«
»Das war alles in Reimen, immer wieder dasselbe. Irgendwas über Gordon und Stanley. Und dann sagte er: >Quondam-Raum macht mich schaun.<«
»Quondam? Ist das nicht Lateinisch?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ist schon eine Weile her, daß ich in der Kirche war.«
»Ich glaube, quondam ist ein lateinisches Wort«, wiederholte Nieto. Plötzlich hörten sie eine fremde Stimme. »Entschuldigung?« Es war der bebrillte Junge, der, seine Mutter neben sich, im Bett gegenüber saß. »Wir warten noch immer auf den Chirurgen, Kevin«, entgegnete Beverly. »Wenn er kommt, richten wir deinen Arm ein.« »Er hat nicht >Quondam-Raum< gesagt«, bemerkte der Junge. »Er hat >Quantenschaum< gesagt.« »Was?«
»Quantenschaum. Er hat >Quantenschaum< gesagt.«
Sie gingen zu ihm. Nieto schien belustigt. »Und was genau ist Quantenschaum?«
Der Junge blinzelte hinter seiner Brille und sah sie ernst an. »In sehr kleinen, subatomaren Dimensionen ist die Struktur der Raumzeit unregelmäßig. Sie ist nicht glatt, sondern irgendwie blasenförmig und schaumig. Und weil das ganz unten auf der Quantenebene ist, nennt man das Quantenschaum.«
»Wie alt bist du?« fragte Nieto.
»Elf.«
Seine Mutter sagte: »Er liest sehr viel. Sein Vater arbeitet in Los Alamos.«
Nieto nickte. »Und was ist der Sinn von diesem Quantenschaum?« »Da gibt's keinen Sinn«, erwiderte der Junge. »Das Universum ist einfach so beschaffen, auf der subatomaren Ebene.« »Und warum sollte dieser alte Knabe gerade darüber reden?« »Weil er ein bekannter Physiker ist«, sagte Wauneka, der eben ins Zimmer trat. Er sah auf ein Blatt Papier in seiner Hand. »Das ist eben auf die Vermißtenmeldung reingekommen. Joseph A.Traub, einundsiebzig Jahre alt, Werkstoffphysiker. Spezialist für supraleitende Metalle. Als abgängig gemeldet von seinem Arbeitgeber, ITC Research in Black Rock, heute gegen Mittag.«
»Black Rock? Das ist doch in der Gegend von Sandia.« Der Ort lag mehrere Stunden entfernt, mitten in New Mexico. »Wie zum Teufel ist der Kerl zum Corazon Canyon in Arizona gekommen?« »Keine Ahnung«, sagte Beverly. »Aber er ist -« In diesem Augenblick ging der Alarm los.
Es passierte mit einer Geschwindigkeit, die Jimmy Wauneka verblüffte. Der alte Mann hob den Kopf vom Kissen, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und spuckte dann Blut. Die Sauer-stoftmaske färbte sich grell rot; Blut quoll seitlich aus der Maske heraus, lief ihm über Wangen und Kinn und befleckte Kissen und Wand. Ein gurgelndes Geräusch drang aus seiner Kehle: Er ertrank in seinem eigenen Blut. Beverly stürzte bereits durchs Zimmer. Wauneka rannte hinter ihr her. »Drehen Sie ihm den Kopf zur Seite!« rief Nieto, der ebenfalls zum Bett gelaufen kam. »Den Kopf drehen!« Beverly hatte dem alten Mann die Maske heruntergerissen und versuchte, ihm den