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James Krüss

Timm Thaler

oder

Das verkaufte Lachen

Für Günter Strohbach

dem ich diese Geschichte verdanke

An den Leser

Die folgende Geschichte erzählte mir ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, der in Leipzig gleich mir den Druck eines Buches zu Überwachen hatte. (Es handelte sich dabei, wenn ich nicht irre, um ein Buch über Marionetten-Puppen.) Das Bemerkenswerteste an diesem Mann war, daß er trotz seines Alters noch so hübsch und so herzhaft lachen konnte wie ein zehnjähriger Junge.

Wer dieser Mann war, kann ich nur vermuten. Der Erzähler und die Zeit bleiben so dunkel wie manches in dieser Geschichte. (Immerhin läßt einiges darauf schließen, daß der Hauptteil der Geschichte um das Jahr 1930 spielt.)

Erwähnen möchte ich noch, daß ich die Geschichte in den Arbeitspausen auf die Rückseiten großer aussortierter Druckbogen schrieb. Deshalb ist das Buch in Bogen gegliedert, die aber nichts anderes als Kapitel sind.

Erwähnen möchte ich auch, daß der Leser bei diesem Buch, das vom Lachen handelt, wenig zu lachen haben wird. Es sei aber auch darauf hingewiesen, daß dieser Gang durch das Dunkel Kreise um das Licht beschreibt.

Die Bücher und Bogen des Romans

ERSTES BUCH • Das verlorene Lachen

Erster Bogen Ein aimer kleiner Junge

Zweiter Bogen Der kariеrte Herr

Dritter Bogen Gewinn und Verlust

Vierter Bogen Das verkaufte Lachen

Fünfter Bogen Verhör am Abend

Sechster Bogen Der kleine Millionär

Siebenter Bogen Der arme Reiche

Achter Bogen Der letzte Sonntag

Neunter Bogen Herr Rickert

Zehnter Bogen Das Marionettentheater

ZWEITES BUCH • Verwirrungen

Elfter Bogen Der unheimliche Baron

Zwölfter Bogen Kreschimir

Dreizehnter Bogen Stürme und Ängste

Vierzehnter Bogen Die unmögliche Wette

Fünfzehnter Bogen Verwirrung in Genua

Sechzehnter Bogen Das Ende eines Kronleuchters

Siebzehnter Bogen Der reiche Erbe

Achtzehnter Bogen Im Palazzo Candido

Neunzehnter Bogen Jonny

Zwanzigster Bogen Klarheit in Athen

DRITTES BUCH • Irrwege

Einundzwanzigster Bogen Das Schloß in Mesopotamien

ZweiundzwanzigsterBogen Senhor van derTholen

Dreiundzwanzigster Bogen Die Sitzung

Vierundzwanzigster Bogen Ein vergessener Geburtstag

Fünfundzwanzigster Bogen Im Roten Pavillon

Sechsundzwanzigster Bogen Margarine

VIERTES BUCH • Das wiedergefundene Lachen

SiebenundzwanzigsterBogen Ein Jahr im Flug

Achtundzwanzigster Bogen Ein Wiedersehen ohne Willkommen

Neunundzwanzigster Bogen Vergessene Gesichter

Dreißigster Bogen Papiere

Einunddreißigster Bogen Ein geheimnisvoller Zettel

Zweiunddreißigster Bogen Hintertreppen

Dreiunddreißigster Bogen Das wiedergeftindene Lachen

ERSTES BUCH. DAS VERLORENE LACHEN

Die Wette gilt, mein Herr! Doch glaubt es mir:

Das Lachen unterscheidet Mensch und Tier.

Und man erkennt den Menschen stets daran,

Daß er zur rechten Stunde lachen kann!

Erster Bogen. Ein armer kleiner Junge

In den großen Städten mit den breiten Straßen gibt es hinten hinaus heute noch Gassen, die so eng sind, daß man sich durch die Fenster von einer Seite zur anderen die Hand reichen kann. Wenn fremde Besucher, die viel Geld und viel Gefühl haben, zufällig in so eine Gasse geraten, dann rufen sie: Wie malerisch! Und die Damen seufzen: Wie idyllisch und romantisch!

Aber das Idyllische und Romantische sind großer Humbug; denn hinten hinaus wohnen Leute, die wenig Geld haben. Und wer in einer großen reichen Stadt wenig Geld hat, wird grämlich, neidisch und nicht selten zänkisch. Das liegt nicht nur an den Leuten, sondern auch an den Gassen.

Der kleine Timm kam mit drei Jahren in so eine enge Gasse. Seine lustige, rundliche Mutter war gestorben, und der Vater mußte, da es zu jener Zeit wenig Arbeit gab, auf den Bau gehen. So zogen Vater und Sohn von der hellen Erkerwohnung am Rande des Stadtparks in die Gasse mit dem Kopfsteinpflaster, in der es beständig nach Pfeffer, Kümmel und Anis roch; denn in dieser Gasse befand sich die einzige Gewürzmühle der Stadt. Bald darauf bekam Timm eine dürre, mausgesichtige Stiefmutter und dazu einen Pflegebruder, der frech, verwöhnt und käsebleich war.

Timm war trotz seiner drei Jahre schon ein kräftiger kleiner Bursche, der besonders hübsch lachte und der einen Ozeandampfer aus Küchenstühlen oder em Auto aus Sofakissen ganz selbständig regieren konnte. Seine verstorbene Mutter hatte Tränen gelacht, wenn Timm mit Kissen und Stühlen seine großen Reisen zu Wasser und zu Lande unternahm und immerzu „tuff, tuff, tuff, Ameerika“ rief. Aber seine Stiefmutter prügelte ihn dafür. Und das konnte er nicht begreifen.

Audi den Stiefbruder Erwin begriff er schwer; denn der bewies seine brüderliche Liebe dadurch, daß er den kleinen Timm mit Brennholz bewarf oder daß er ihn mit Ruß oder Tinte oder Pflaumenmus beschmierte. Das Allerunbegreiflichste aber war, daß hinterher nicht Erwin, sondern Timm dafür bestraft wurde. Über all diesen Unbegreiflichkeiten in der Gassenwohnung verlernte Timm beinahe das Lachen. Nur wenn der Vater zu Hause war, ertönte noch sein kleines drolliges Gelächter mit dem Schlucker am Schluß.

Leider war der Vater jetzt meistens unterwegs, weil er auf einem weit entfernten Bau Arbeit gefunden hatte. (Vor allem deshalb, damit Timm nicht allein war, hatte er ja ein zweites Mal geheiratet.) Nur sonntags war er noch mit seinem Söhnchen zusammen. Dann nahm er den kleinen Timm bei der Hand und sagte zu der Stiefmutter: „Wir gehen spazieren.“ In Wirklichkeit ging er aber zur Pferderennbahn, wo er mit dem bißchen Geld, das er sich heimlich erspart hatte, auf Pferde wettete. Er hoffte, dabei eines Tages so viel Geld zu gewinnen, daß er mit seiner Familie die enge Gasse verlassen und wieder in eine hellere Wohnung ziehen könne. Natürlich war seine Hoffnung auf Wettglück vergeblich - wie bei den meisten Menschen. Er verlor beinahe regelmäßig, und wenn er doch einmal gewann, dann reichte der Gewinn knapp für ein paar Leckereien und ein Sonntagsbier und eine Straßenbahnfahrt.

Der kleine Timm hatte am Wettkampf der Pferde und Reiter wenig Vergnügen. Das alles war so weit von ihm entfernt und brauste viel zu schnell an ihm vorbei. Obendrein standen immer viel zu viele Menschen vor ihnen, so daß der Junge selbst von der Schulter des Vaters aus Mühe hatte, die Rennbahn zu überblicken.