Die Stiefmutter nahm sich in der neuen Wohnung ein Dienstmädchen. Aber kein Mädchen hielt es längere Zeit bei ihr aus. Auf die Marie folgte Berta, auf die Berta Klara, auf Klara folgte Johanna, und schließlich kam eine alte Frau, die Griet hieß. Die blieb, weil sie sich nichts gefallen ließ und zurückzankte, wenn Timms Stiefmutter mit ihr stritt.
Unter dem Zanken und Wiederversöhnen der beiden Frauen vergingen die Jahre, bis Timm vierzehn war und einen Beruf ergreifen mußte.
Die Stiefmutter wünschte und befahl, daß Timm als Lehrling in ein Wettbüro eintreten sollte. Das hatte einen guten Grund: Genau an seinem dreizehnten Geburtstag hatte Timm sehr viel Geld auf ein Pferd gesetzt, das nur durch eine Gefälligkeit der Rennleitung zum letzten Male mitlaufen durfte, bevor es sein Gnadenbrot erhielt. Auf dieses Pferd hatte niemand gewettet - außer Timm! Und weil Timm darauf gewettet hatte, gewann das Pferd zum Staunen aller Fachleute. Der Junge erhielt bare dreißigtausend Mark. Und nach diesem Gewinn erklärte er seiner Stiefmutter, sie seien jetzt reich genug, und er werde nicht mehr wetten. Weder Tränen noch Schläge konnten ihn umstimmen. Niemals mehr ging er zur Pferderennbahn.
Erwin und die Stiefmutter versuchten noch einige Male allein ihr Glück. Aber als sie am Ende dreitausend Mark verwettet und kaum dreihundert Mark gewonnen hatten, hörten auch sie mit dem Wetten auf.
Nun hoffte die Stiefmutter, Timm werde wieder Geschmack an den Pferderennen finden, wenn er in ein Wettbüro als Lehrling einträte. Sie hatte sogar schon Verhandlungen mit dem reichsten Wettuntemehmer der Stadt geführt. Aber Timm trotzte ihr und sagte, er wolle zur See fahren und nichts mehr mit Pferdewetten zu tun haben.
Eines Tages - Timm war seit ein paar Tagen aus der Schule entlassen - fing die Stiefmutter auf die bekannte Art wieder einmal von Timms zukünftigem Beruf zu reden an: „Nun bistekeinkindmehr, Timm! Und irgendwasmußte dochnunan -fangen! Indemwettbüro kannstemit deinengabennochmal einreichermannwerden, Timm! Ichwilljanurdein Bestesjunge! Ichdenknichan mich! Ichdenkdochnur an dich! “
„Ich gehe aber nicht in ein Wettbüro. Ich will zur See fahren!“ sagte Timm.
Nun wurde die Stiefmutter erst ärgerlich, dann zornig und am Ende rührselig. Sie fing wie gewöhnlich an zu weinen und rief, er wolle sie alleinlassen, damit sie im Alter kein Geld mehr habe und betteln müsse, und er wolle sie und seinen Bruder Erwin ins Unglück stürzen und allein ein reicher Mann werden, und überhaupt habe er nie ein Herz für die Familie gehabt. Er könne ja nicht einmal mehr lachen!
Die letzte Bemerkung traf Timm schwerer, als die Stiefmutter ahnte. Das Blut schoß ihm in den Kopf. Er wäre am liebsten davongerannt. Aber seit er sein Lachen verloren hatte, hatte er so sehr an Selbstbeherrschung gewonnen, daß es für einen Jungen in seinem Alter beängstigend war. Auch diesmal konnte er sich so beherrschen, daß die Stiefmutter von seiner Erregung nichts bemerkte außer der Röte im Gesicht.
„Gib mir am nächsten Sonntag ebenso viel Geld wie damals, als ich zuletzt wettete“, sagte er. „Ich werde wahrscheinlich viel gewinnen.“
Ehe die Stiefmutter zugestimmt hatte, verließ Timm die Wohnung, rannte an den Fluß, setzte sich auf eine abgelegene Uferbank und versuchte, seiner Erregung Herr zu werden. Aber diesmal gelang es ihm nicht. Er weinte. Und weil er nicht weinen wollte, schüttelte ihn das Schluchzen umso schlimmer, bis er sich endlich seiner Verzweiflung überließ. Da hörte das Weinen und Geschütteltwerden nach und nach auf, und nun fing dieser vierzehnjährige Junge kühl und ruhig an, über seine Zukunft nachzudenken.
Er beschloß, am folgenden Sonntag wieder auf einen Außenseiter zu setzen und viel Geld zu gewinnen. Das Geld sollte die Stiefmutter bekommen, und dann wollte er sie und Erwin verlassen und einfach davonlaufen. Vielleicht würde er Schiffsjunge werden, vielleicht etwas anderes. Um das Geld brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Wetten kann man überall. Am Reichsein - das wußte er jetzt - hatte er ohnedies keinen Spaß. Er hatte sein Lachen verkauft für etwas, was er gar nicht brauchte.
Und nun beschloß der Junge auf der Uferbank am Fluß etwas viel Wichtigeres: Er wollte sein Lachen zurückgewinnen. Er wollte seinem Lachen nachlaufen. Er wollte Herrn Lefuet suchen, wo immer auf der Welt er sein mochte.
Es wäre gut gewesen, wenn Timm irgendeinen Menschen gehabt hätte, meinetwegen einen betrunkenen Kutscher oder einen halb verrückten Landstreicher, dem er von seinem Entschluß hätte erzählen können. Die schwierigsten Dinge können einfach werden, wenn man mit einem anderen Mensehen darüber spricht. Aber Timm durfte nicht darüber sprechen. Er mußte sich zuschließen wie eine Auster. Ein Stück Papier, das jetzt im doppelten Boden der Standuhr lag, machte ihn zum einsamsten und zum traurigsten Jungen, den die Sonne beschien.
Timm war ganz allein. In dieser Stimmung kam ihm der Vater in den Sinn und das ersparte Geld für den Marmorgrabstein. Und er beschloß noch etwas: Vor seiner Flucht sollte der Vater den Stein aufs Grab bekommen. Timm wußte, das würde Schwierigkeiten machen. Aber durchsetzen wollte er’s.
Ruhig stand er jetzt von der Bank auf. Er hatte Pläne, die er durchführen mußte. Und die Pläne machten den Jungen stark.
Achter Bogen. Der letzte Sonntag
Als der Sonntag kam - der letzte Sonntag, den Timm in seiner Geburtsstadt verbrachte - sah man der Stiefmutter schon beim Frühstück die Aufregung an. Sie hatte einen besonders starken Kaffee gekocht, den sie in gierigen Schlucken trank, und sie aß fast nichts. Timm hatte sie ein wenig mehr Geld gegeben, als er erbeten hatte. Auch hatte sie ihr prächtigstes Staatskleid aus bestickter Seide angezogen und den Fuchspelz bereitgelegt.
„Ichbingespann tob wirgewinnen“, schnatterte sie. „Weißteschonaufwel - chespferddu setzt, Timm?“
„Nein“, sagte der junge wahrheitsgemäß.
„Ja, machstedirdennnochkeine Gedanken?
Kannstedenneinfachsoins Blaue wetten?“
„Timm weiß schon, was er tut!“ warf Erwin ein. Die Wett-Erfolge seines Stiefbruders erfüllten ihn mit ebenso viel Neid wie Respekt.
Nach dem Frühstück fuhren die drei in einem Taxi zum Rennplatz. Die Stiefmutter steuerte dort sogleich auf die Wettschalter zu. Aber Timm sagte, er müsse sich noch ein wenig umhorchen. Das sah die Verwandtschaft ein. Timm durfte sich allein unter die Leute mischen und ihre Gespräche belauschen.
Auf dem Rennplatz war er fast vergessen, weil er ein ganzes Jahr lang nicht gewettet hatte. Aber einige Leute kannten ihn noch und zeigten flüsternd auf ihn. Besonders ein Herr mit krausem braunem Haar und merkwürdig stechenden wasserblauen Augen schien sich sehr für Timm zu interessieren. Er umkreiste den Jungen wie ein Hund seinen Herrn, beobachtete ihn ebenso unablässig wie unauffällig und stellte sich schließlich neben Timm, als der die Liste der Pferde studierte.
„Auf Südwind scheint niemand zu setzen“, bemerkte er betont beiläufig und ohne den Jungen dabei anzusehen. „Willst du auch wetten?“
„Ja“, sagte Timm. „Und zwar auf Südwind!“
Jetzt wandte der Fremde den Kopf. „Das ist sehr kühn, mein Junge! Südwind hat so gut wie gar keine Gewinnchancen!“
„Wir werden sehen“, meinte Timm.
Irgendwie war ihm nach Lachen zumute. Aber er konnte nicht lachen. Ernst und ein wenig traurig sah er den Fremden an, der jetzt über Timms kühne Wettabsichten zu witzeln begann und den Jungen zum Schalter begleitete.
Unterwegs scherzte der Fremde weiter. Er machte Witze über die kleinen Jockeys und beobachtete dabei genau das Gesicht des Jungen. Aber Timm verzog keine Miene.
Kurz vor dem Schalter blieb der Herr stehen. Unwillkürlich verhielt auch Timm den Schritt. „Ich heiße Kreschimir“, sagte der Fremde. „Ich meine es gut mit dir, mein Junge. Ich weiß, du hast auf diesem Rennplatz noch nie eine Wette verloren. Das ist selten und zugleich seltsam. Darf ich dich etwas fragen?“